Black Swan - Silberner Fluch
verabschiedet hatte – war kaum zu glauben, wie knapp es gewesen war. Im Bad lehnte ich mich gegen das Waschbecken, strich mir das Haar zurück und untersuchte die Bissspuren an meinem Hals. Direkt über meiner Schlagader befanden sich zwei leuchtend rote Einstiche, und dort, wo Wills Zähne bei Lols Angriff meine Haut geritzt hatten, war ein kleiner Riss. Diese Spuren schienen nicht so schnell zu verblassen wie die ersten, vermutlich, weil Will keine Zeit gehabt hatte, sie zu heilen. Der Anblick des versehrten Fleisches – das
ich ihm aus freiem Willen angeboten hatte – schockierte mich. War es wirklich das, was ich wollte? Mir für diesen Mann … für dieses Wesen … den Körper verletzen und das Leben aussaugen zu lassen?
Der Körper ist der Zufluchtsort der Seele. Romans Worte fielen mir schuldbewusst wieder ein. Entsetzt stellte ich mir vor, was mein Vater über diese Spuren sagen würde – über diese beinahe selbst beigebrachten Verletzungen! Genauso gut hätte ich mich ritzen können. Wenn ich zugelassen hätte, dass Will Hughes mir das Blut aussaugte, hätte ich dann meine Seele verloren?
Hatte Will Hughes eine Seele?
Ich dachte daran, wie es sich anfühlte, wenn ich in seine Augen blickte, dachte an das Ziehen des silbernen Fadens, der uns verband. Wenn er sich nicht zwischen unseren Seelen spann, wo verlief er dann?
Nachdem ich die Wunden gesäubert und mit Desinfektionsmittel betupft hatte, löste ich den Blick von meiner Kehle und sah mir selbst im Spiegel in die Augen … und stieß angesichts dessen, was ich dabei entdeckte, entsetzt die Luft aus. Eine rote Flamme flackerte in meinen Pupillen. Sie wurde größer und bewegte sich hin und her, wenn ich den Atem anhielt, und wenn ich ausatmete, ging sie aus. Meine eigenen Augen blickten mir zutiefst erschrocken entgegen, aber für einen kurzen Augenblick hatte ich das überaus seltsame Gefühl, dass gerade jemand anders aus ihnen herausgeschaut hatte.
Wie sich herausstellte, befand sich an der Adresse im Diamond District, die Oberon mir gegeben hatte, die Nationale Edelsteinbörse. Während ich zwischen den vielen
anderen Menschen durch die große Verkaufshalle ging, fragte ich mich, ob die Unirdischen mit Juwelen handelten? Eigentlich hatte ich immer gedacht, das täten die Chassidim. Doch egal, wer diese Geschäfte führte, sie gingen gut. Es war eine Menge los, von der Rezession war hier nichts zu spüren.
Als ich von Stand zu Stand ging, fiel mir dennoch etwas auf. Obwohl viele der Kunden Schmuck kauften – junge Paare suchten sich während der Mittagspause Verlobungsringe aus, Büroangestellte erstanden ihre Weihnachts- und Hanukka-Geschenke -, war die Zahl derer, die verkauften , dennoch größer. Das war nicht immer offensichtlich, denn viele, die eigentlich etwas anzubieten hatten, sahen sich zunächst die ausgelegten Waren an, ließen sich eine Uhr oder einen Ring zeigen und zogen dann ganz nebenbei einen kleinen Beutel aus der Tasche, um zu fragen, ob der Besitzer auch an einem Kauf interessiert sei. Als ob die Schilder, auf denen ANKAUF VON GOLD UND DIAMANTEN stand, nicht ohnehin ins Auge sprangen.
Ich beobachtete einen solchen Handel, bei dem eine müde aussehende Frau in den Fünfzigern einen Verlobungsring veräußerte. »Von meinem Ex-Mann, diesem Schlemihl«, erklärte sie dem Verkäufer.
»Wer braucht schon schlechte Erinnerungen«, erwiderte der Mann. Er war klein und beinahe kahl, von einem weißen Haarkranz abgesehen, hatte jedoch einen langen weißen Bart. Sein Spitzbauch spannte eine schimmernd schwarze Weste. Als er die Frau anlächelte, ließ das Licht im Verkaufsraum einen Goldzahn aufblitzen. »Gönnen Sie sich eine Kreuzfahrt, meine Liebe«, sagte er und rückte sein Vergrößerungsglas über dem zweikarätigen Diamanten
zurecht. »Da treffen Sie sicher einen Mann, der Ihnen einen zweimal größeren Ring schenkt.«
Die Frau lachte, und die Jahre fielen von ihr ab. Heute hatte ich mich nicht so sehr auf Auren konzentriert, aber ich sah, dass ihre Aura nach den Neckereien des Schmuckhändlers kristallblau zu leuchten begann. Seine Aura wiederum war reinweiß. »Vielleicht mache ich das tatsächlich«, sagte sie und stützte die Ellenbogen auf den Tresen, während der Juwelier mit dem Greifzirkel den Diamanten maß. »Was halten Sie von den Bahamas um diese Jahreszeit?«
»Zu kalt«, antwortete er und hob die Lupe vors Auge. »Aruba ist viel besser.« Dann schrieb er etwas auf ein Stück Papier – eine Zahl
Weitere Kostenlose Bücher