Blackbirds
Bingo war sein Name!«
Es ist ein schwarzes Notizbuch mit schartigem Plastikeinband. Das Buch ist aufgebläht, wie ein Tumor, der statt mit Blut mit Worten gefüllt ist. Er blättert es schnell durch: zerfetzte Seiten, manche mit Eselsohren, in sämtlichen Farben und Arten von Schreibern (rot, schwarz, blau, Filzstift, Kugelschreiber, Gel-Roller, eine Seite ist sogar in beschissener Pastellkreide geschrieben, wie es aussieht), jede Seite datiert, jede Seite beginnt mit ›Liebes Tagebuch‹ und hört auf mit ›In Liebe, Miriam‹.
»Und was ist mit dir?«, fragt Miriam, und Ashley macht sich um ein Haar in die Hose. Mit rasendem Herzschlag blickt er auf und rechnet damit, sie da stehen zu sehen, aber das tut sie nicht. Sie ist immer noch auf der andern Seite der Badezimmertür – sie schreit durch sie hindurch und unterhält sich mit ihm, während sie sich die Haare färbt.
Er holt tief Luft. »Was soll mit mir sein?«
»Wo kommst du her? Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt? Wer bist du?«
Er blättert zur Vorderseite des Tagebuchs.
»Äh«, sagt er und versucht, sich auf die Worte zu konzentrieren. »Ich bin aus Pennsylvania. Ich bin, ähhh, Vertreter.«
»Na klar!«, ruft sie zurück. »Und ich bin ein Zirkusaffe!«
»Ich hatte vorher noch nie Sex mit einem Zirkusaffen.«
Er blättert noch ein paar Seiten durch. Seine Augen gleiten über die Wörter. Sein Mund fängt an, trocken zu werden. Sein Herz rast. Es ergibt Sinn, aber ...
Er blättert noch zehn Seiten durch und liest mehr. Er formt die Worte mit den Lippen, ohne sie laut auszusprechen ...
Als würde man versuchen, einen Zug mit einem Penny zum Entgleisen zu bringen oder eine Welle ins Meer zurückzutreten – ich kann die Scheiße nicht aufhalten, ich kann die Scheiße nicht verändern.
Er blättert um.
Was das Schicksal will, kriegt das Schicksal.
Er blättert um.
Ich bin Zaungast beim Lebensende von Leuten.
Er blättert um.
Bren Edwards brach sich das Becken und starb in einem Abflusskanal. Er hatte zweihundert Dollar in der Brieftasche – heute Abend werde ich gut essen.
Er blättert um.
Es ist, was es ist.
Er blättert um.
Fast fertig mit dir, liebes Tagebuch, du weißt ja, was dann passiert.
Er blättert um.
Ich brauch einfach einen reichen Typen, der ins Gras beißt. Das ist dann der Tag überhaupt.
Er blättert um.
Liebes Tagebuch. Ich hab’s schon wieder getan.
Sein Blick fällt zufällig auf etwas anderes in der Kuriertasche, die auf die Seite geplumpst ist. Er greift hinein, zieht einen kleinen Jahresplaner heraus.
»Ich bin auch aus Pennsylvania!«, ruft Miriam aus dem Bad.
»Das ist toll«, murmelt er. Er blättert den Terminkalender durch. Die meisten Tage sind leer, aber andere? Andere habenNamen. Zeiten. Kleine Symbole auch – Sterne, X-e, Dollarzeichen.
Und Todesursachen.
6. Juni, Rick Thrilby / 16.30 Uhr / Herzanfall
19. August, Irving Brigham / 2.16 Uhr / erliegt dem Lungenkrebs
31. Oktober, Jack Byrd / 20.22 Uhr / frisst ’ne Kugel, Selbstmord
Und immer weiter.
»Was Interessantes gefunden?«, fragt Miriam.
Erschrocken lässt Ashley das Buch fallen und blickt auf. Ihre Augen sind Schlitze, und ihr Blick huscht zwischen ihm, dem neben ihm liegenden Tagebuch, der Granate auf dem Kopfkissen und ihrer umgefallenen Tasche hin und her.
»Hör zu«, setzt er an, aber sie unterbricht ihn.
Mit einer Faust. Eine schnelle Gerade auf den Mund spaltet seine Unterlippe. Bäng . Seine Zähne schlagen aufeinander. Er ist überrascht, obwohl er es vermutlich nicht sein dürfte. Sie ist jetzt seit Jahren auf Achse. Irgendwo unterwegs hat sie gelernt, wie man fest zuschlägt, und ihrem blauen Auge nach zu urteilen, weiß sie auch, wie man einsteckt.
»Du bist ein Bulle«, sagt sie. »Nein. Kein Bulle.«
»Kein Bulle«, nuschelt er an der Hand vorbei, die er auf die blutende Lippe gepresst hat. Er nimmt die Hand weg, sieht einen Streifen Rot.
»Ein Stalker. Ein Psycho.«
»Ich bin dir seit Virginia gefolgt.«
»Wie ich gesagt habe. Stalker. Psycho. Weißt du was? Scheiß drauf!« Sie schiebt sich an ihm vorbei, rafft ihre Bücher, ihr Waffenarsenal, ihren anderen Schutt und Abfall zusammen und schaufelt alles in ihre Kuriertasche. Ashley packt sie am Handgelenk, aber sie will nicht reden. Sie reißt sich los. Er greift noch einmal nach ihr, doch sie schubst ihn mit dem Handrücken vom Bett.
Bis er begreift, was passiert ist, ist die Haustür schon auf und Miriam weg.
ZEHN
Die Sonne kann sich
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