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Blackbirds

Blackbirds

Titel: Blackbirds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Wendig
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durcheinandergewürfelte Monstrosität von New York oder Philly.
    Sie hat das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen. Unsicher ausbalanciert. Sie will nicht über die Zukunft nachdenken – das tut sie ohnehin nur noch selten, denn normalerweise lässt sie sich einfach vom Leben treiben, als wäre sie ein weggeworfener Styroporbecher, der auf einem trägen, verrückten Fluss mitgerissen wird. Aber das Leben hört nicht auf, an ihr zu nagen. Ihr mit kleinen Zähnen zuzusetzen.
    Sie hat gehört, dass in Laborstudien Ratten und Affen, denen die Illusion einer Wahl gegeben wird, im Ergebnis relativ gesund bleiben. Selbst wenn sie nur die Wahl zwischen zwei Alternativen haben, einem Hebel, der einen Elektroschock austeilt, und einem Hebel, der einen anderen Elektroschock austeilt, haben sie zumindest das Gefühl, beim Ausgang ein Wörtchen mitreden zu können, und sind letzten Endes viel glücklicher und produktiver. Ratten und Affen, die den Schock einfach willkürlich kriegen, ohne irgendeine Wahl, sind schließlich ängstlich, fahrig, nagen sich Fell aus und beißen Löcher in ihre kleinen Hände und Füße, bevor sie an Krebs oder an Herzversagen sterben.
    Miriam hat das Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Sie fragt sich, wie lange es wohl dauern wird, bevor sie sich selbst die Finger bis auf die Knochen abkaut.
    Natürlich könnte es auch Louis sein.
    Er verfolgt sie. Er ist noch nicht mal tot, und sie sieht schon seinen Geist. Eine einzige zufällige Begegnung, und jetzt bekommt sie ihn hier und da flüchtig zu sehen: Er steht in einer Menschenmenge, fährt in der Nähe einen Minivan, spiegelt sich in einer schmierigen Waffle-House-Fensterscheibe ...
    »Miriam?«
    Sie wirbelt herum.
    Der Geist spricht zu ihr.
    »Hey«, sagt der Geist von Louis. Außer dass normalerweise der Geist diese X-e aus Isolierband über blutigen Augenhöhlen hat. Dieser hier nicht. Er hat echte Augen. Warme Augen. Augen, die sehen.
    »Du bist kein Geist!«, sagt sie laut.
    Er zögert. Tastet sich ab, als wollte er sich vergewissern, dass er physisch noch präsent ist. »Nö. Und du auch nicht, so wie’s aussieht.«
    »Darüber lässt sich streiten.« Sie ist erschüttert.
    In ihrem Kopf ist Louis tot. Auf die Art ist es leichter. Das hier ist schwerer.
    »Was machst du hier?«, fragt sie.
    Er lacht. »Essen!«
    »Ich nehme an, das ergibt Sinn.« Sie fühlt sich verlegen. Röte steigt ihr in die Wangen; das passiert ihr sonst nie. Sie versucht, sich eine schlagfertige Erwiderung einfallen zu lassen. Es gelingt ihr nicht. Sie kommt sich entwurzelt vor, beklagenswert schutzlos. Entblößt.
    »Willst du mir Gesellschaft leisten?«
    Sie will weglaufen.
    Stattdessen sagt sie: »Ich habe gerade fertig gegessen.«
    »Natürlich«, sagt er.
    Und dann stehen sie da, teilen die Stille und das Wispern des Regens.
    »Hör zu«, sagt er schließlich. »Ich glaube, ich habe neulich im Truck möglicherweise Mist gebaut. Ich denke, vielleicht habe ich einen falschen Eindruck vermittelt, als wär’ ich irgendein Spinner. Und verdammt, vielleicht bin ich das auch. Es ist bloß – ich lerne nicht viele nette Menschen kennen. Ich hatte nicht vor, bescheuert zu wirken oder mich aufzuspielen, und ich wollte dich auch nicht in Verlegenheit bringen von wegen mal zusammen ausgehen.«
    Miriam versucht, nicht zu lachen, aber sie lacht doch. Er sieht verletzt aus, und sie winkt ab. »Ich lache nicht über dich, Mann, ich lache über mich. Über die Situation. Die Ironie lebt und lässt es sich wohlsein. Du wirkst alles andere als bescheuert. Du bist tausend Millionen Meilen von bescheuert entfernt. Vertrau mir! Ich bin der komische Vogel. Nicht du. Du bist nur ein Mann. Ein sehr netter Mann. Ich bin die verrückte Zicke, die ausgeflippt ist!«
    »Nein, ich hab’s schon kapiert – lange Nacht, langer Highway, stressige Lage, es ist alles gut.« Louis zieht einen zerknitterten Kassenzettel aus der Jeanstasche und fischt einen Kuli raus. Er drückt den Kassenzettel ans Waffle-House-Fenster und schreibt etwas, dann gibt er ihn ihr. »Das ist meine Nummer. Mein Handy; ich hab’ keinen Festnetzanschluss mehr. Ich kann ein paar Tage lang keine weitere Ladung mehr aufnehmen – die Konjunktur ist echt den Bach runter, und das tut einem kleinen Mann wie mir weh – aber das heißt, dass ich noch in der Gegend bin.«
    »Du bist noch in der Gegend«, sagt sie.
    Messer im Auge. Schmatzendes Geräusch. Miriam?
    »Na ja. Keine Ahnung.«
    »Wer ist das?«, fragt Ashley, als er

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