Blackbirds
Seine Stimme wird leise. »Ich habe kein Zuhause, habe keine Familie zu ernähren, also kann ich es locker angehen lassen. Trotzdem mache ich ungefähr fünfunddreißig Cents die Meile, und heute haben wir eine Fünfhundert-Meilen-plus-Fuhre gemacht – das sind beinah zweihundert Dollar! Ich hole ungefähr sechzig Riesen im Jahr rein, und ich habe keine Hypothek abzuzahlen. Ich habe nicht viele Rechnungen.«
»Stört es dich? Dieses Leben? Du bist im Grunde ... ein Nomade. Du hast kein Zuhause.«
»Du doch auch nicht.«
»Ich weiß. Und ich liebe es ... manchmal. Ich liebe es, dass ich nur ein Stück Müll bin, das den Fluss hinuntertreibt – wo immer er mich hinführt, führt er mich hin. Aber ich hasse es auch. Ich fühle mich nie irgendwas oder irgendwem verbunden. Kein Anker. Keine Wurzeln.«
»Ich fühle mich dir verbunden«, sagt er.
»Ich fühle mich dir auch verbunden«, erwidert sie, und trotzdem staunt sie, wie sich ihm verbunden zu fühlen auch bewirkt, dass sie sich ihm ferner fühlt. Ein Paradox, eine Unmöglichkeit, aber so ist es. Sie ist ihm nahe, doch zwischen ihnen lauert eine große und monströse Kluft: der gähnende Abgrund zwischen Leben und Tod.
Auch er spürt es. Sie weiß, dass er es spürt, denn er ist anschließend still. Es versteht es nicht, nicht so wie sie. Er weiß nicht, was kommt. Aber sie denkt sich, dass er es irgendwo im Innern spürt. So wie Spinnen ein Gewitter spüren oder Honigbienen ein Erdbeben anzeigen können.
Die Lichter des hiesigen Highways tasten sich ins Führerhaus.
Sie bricht das Schweigen. »Pennen wir heut’ Nacht im Truck?«
»Nein«, sagt er. »Der Truck Stop hat ein Motel und einen Imbiss.«
»Das ist mein Leben. Motels. Imbisse. Highways.«
»Meins auch.«
Dann kehrt das Schweigen wieder ein, und der Truck rumpelt weiter.
Die Tische im Imbiss sind sauber, die Eier sind gut, und der Kaffee sieht weder aus wie Urin von einer kranken Niere, noch schmeckt er so. Auch das benachbarte Motel ist sauber. Stinkt nicht nach Kotze oder Zigaretten. Keine Kakerlaken, die einen Cancan auf dem Waschbecken aufführen. Die Türen des Motels gehen auch nicht direkt auf den Parkplatz hinaus. Das Teil hat einen verdammten echten Flur! Es ist wie das Vier - verfickte - Jahreszeiten , denkt sie. Ist es das, was ein Motel vom Hotel unterscheidet? Ist das hier eigentlich ein Hotel?, fragt sie sich. Hat sie jemals in einem Hotel übernachtet?
Miriam sollte sich glücklich fühlen. Das hier ist eine Verbesserung. Louis ist eine Verbesserung.
Sie geht draußen auf und ab. Sie raucht und ist unglücklich.
»Du weißt nicht, was du tust«, murmelt sie vor sich hin.
Es stimmt. Sie weiß es nicht.
Sie hat sich die ganze Zeit über einfach mitreißen lassen. Abfall im Fluss. Sei zufrieden. Finde Glück. Lass es laufen. M ach Louis glücklich. Mach dir keine Sorgen wegen morgen. Und das hat prima funktioniert, ganz prima.
»Aber dann, Dumpfbacke, die du bist, musst du hingehen und eine echte Hellseherin aufsuchen, die wie ein gottverdammter Blutgeysir ausbricht und dir erzählt, dass du das menschliche Äquivalent zur Enola Gay bist. Mittlerweile sind es nur noch fünf Tage, bis Louis stirbt, und was beabsichtigst du, dagegen zu unternehmen? Nichts? Es passieren lassen? Dich zurücklehnen und zusehen und deine gottverdammten Zigaretten rauchen?«
Als wäre sie wütend auf den Sargnagel aus Tabak, knickt sie ihn und wirft ihn ...
... und Ashley duckt sich, als die glühende Kippe über seine Schulter fliegt.
»Führst du Selbstgespräche?«, fragt er.
Es ist, als sehe sie einen Geist. Als ob er aus dem Nichts käme. Miriam kann sich nicht helfen: Sie fragt sich, ob er überhaupt real ist. Er klingt nicht wie er selbst. Ein Zittern liegt unter seiner Stimme. Er kratzt sich an der Seite. Sogar seine Haltung ist daneben – sein Selbstvertrauen hat Schieflage, wie sein Körper.
Miriam betastet ihre Jeanstasche. Das Messer ist nicht da. Sie hat es im Schenkel dieser Frau zurücklassen müssen, als dieser Schwanzlutscher hier sie hat hängen lassen.
»Du verficktes Schwuchtel-Arschloch!«
»Ist das eine Art, einen alten Freund zu begrüßen?« Er kichert. Es ist kein gesundes Geräusch. Er ist kein Geist.
»Alter Freund! Der ist gut! Wenn du mir zu nahe kommst, beiße ich. Ich beiße dir die Finger ab. Ich beiße dir die Nase ab.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, lässt sie die Zähne zuschnappen: klick-klick .
Ashley kommt trotzdem näher. Er tritt in
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