Blackhearts: Roman (German Edition)
keine Stimme. Sie haben keine Fürsprecher. Das ist es, was wir machen: Wir geben ihnen eine Stimme. Wir geben ihnen Macht.«
Dazu sagt Miriam nichts. Sie hat Lust, »Schwachsinn!« zu rufen, aber sie weiß, dass Kateys Schilderungen stimmen. Sie selbst ist inzwischen seit fast zehn Jahren da draußen, treibt ziellos umher, und nur wenige haben sie jemals wie eine der schönen Rosen am Strauch behandelt. Die meisten benahmen sich, als wäre sie ein Stück Abfall, das in einem Abwasserstrom aus der Kanalisation dahindümpelt. Als ob sie eine leere McDonald’s-Tüte voll dreckiger Spritzen wäre.
Louis war einer der wenigen, der sie wie etwas Besonderes behandelte.
Louis.
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Die beiden bestellen sich etwas zu essen. Miriam versucht es mit einem Hamburger. Es ist so ungefähr der mittelmäßigste Hamburger, den sie je gegessen hat, aber schlecht ist er nicht, nicht direkt. Zumindest glaubt sie, da er bis zur Eishockeyscheibenkonsistenz verbrannt wurde, wird sie sich keine E.coli-Infektion einfangen – wobei E.coli bloß der Code für »jemandes Kack-Keime« ist. Der Wodkawürde zusätzlich dafür sorgen, dass sämtliche Bazillen in einer beißenden Brühe antiseptischen Alkohols gebadet werden.
Katey redet, während Miriam isst.
Am Ende der Mahlzeit pickt Miriam Stücke ihres übrig gebliebenen Brötchens auf und tunkt sie in übrig gebliebenen Ketchup ein, bevor sie sie in den Mund steckt.
Dieses Treffen hat einen Grund, deshalb ist es nun an der Zeit, auf den Punkt zu kommen.
»Es gibt einen Serienmörder«, sagt sie.
Katey muss fast lachen. »Was?«
»Ich habe Ihnen doch erzählt, dass Lauren Martin etwas passieren könnte. Was ich gemeint habe, ist, dass sie sterben könnte. Und noch schlimmer, ich habe gerade herausgefunden, dass sie nicht das einzige Opfer sein wird.«
Miriam erzählt ihr die ganze Geschichte.
Sie verschweigt nichts: der Stacheldraht, die eingeritzten X-Symbole in Handtellern und Füßen, der Doktortisch, die Vogelmaske, die Axt, die Beerdigungsblumen, alles. Rollende Köpfe. Entfernte Zungen. Als sie am Ende angelangt ist, wirkt die Lehrerin gequält.
»Solche Dinge sehen Sie«, sagt Katey sachlich.
»Ja.«
»Das ist entsetzlich.«
»Mehr oder weniger.«
»Das ist es also, was Sie sind.«
Miriam nickt nur.
»Oh.« Katey schaut sie grübelnd an.
»Meine Visionen, ich sehe Dinge in ihnen, und manchmal ergeben diese Dinge keinen Sinn. Einzelheiten führen zu Fragen, die keine Antworten finden. Zu diesem Zweck«, Miriam macht eine Pause, nimmt einen Schluck, »will ich über Schwalben sprechen. Die Vögel.«
»Wieso Schwalben?«
»Der Killer hat eine Tätowierung. Sie haben heute etwas über Philomena erzählt.«
»Philo mela . Eine … Prinzessin von Athen.«
»Was hat sie mit Schwalben zu tun?«
Katey erzählt Miriam die Geschichte.
»Philomela war die Tochter von König Pandion und die Schwester von Prokne. Beide Mädchen waren wunderschön. Prokne heiratete Tereus, den König der Thraker, zog zu ihm und lebte bei ihm. Fünf Jahre vergingen und die Schwestern hatten einander nicht mehr gesehen, und Prokne vermisste Philomela.
Sie schickte ihren Gatten, um Philomela zu holen, damit die Schwestern wieder zusammen sein konnten. Aber als er Philomela sah, fand Tereus sie schöner als seine eigene Frau. So schön, dass er sich nicht beherrschen konnte und sie vergewaltigte.
Um Philomela zum Schweigen zu bringen, packte Tereus ihre Zunge mit einer Zange und schnitt sie ihr mit seinem Schwert heraus. Dann versteckte er Philomela und erzählte Prokne, ihre Schwester sei gestorben.«
»Männer!«, sagt Miriam. »Immer solche Charmeure. Was geschah danach? Wo kommen die Schwalben ins Spiel?«
»Philomela wurde versteckt, aber sie fing an, die wundersamsten Wandteppiche zu weben – Wandteppiche, die insgeheim erzählten, was ihr zugestoßen war. Sie verpackte die Wandteppiche und schickte sie als anonymes Geschenk an Prokne. Prokne erkannte die Wahrheit und wusste nun, was sich zugetragen hatte. Sie zog los und fand ihre Schwester, und gemeinsam planten sie ihre Rache.«
»Und bekamen sie sie?«
»Ja. Prokne lud ihren Mann zum Abendessen ein. Er setzte sich und ließ sich Teller um Teller saftigen Fleisches schmecken. Als er fertig war, sich die Finger leckte und den Bauch rieb, kam Philomela aus der Küche und ließ den abgetrennten Kopf von Tereus’ erstgeborenem Sohn Itys auf den Tisch fallen. Prokne hatte den Jungen schlachten und aus
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