Blackout
allerdings die zehn turbulenten Minuten mit Raquel weg.
Sie hörte zu, besorgt und aufmerksam, verdaute es und sagte dann: »Ich verstehe, warum du es nicht einfach fallenlassen kannst. So viele Verdachtsmomente und kein roter Faden, der sie verbindet.«
Sie hatte recht. Es war die Umkehrung der Gestalttheorie: hier war das Ganze viel weniger als die Summe der Teile. Eine willkürliche Auswahl von Musikern, die auf den Geigen sägen, blasen und trommeln und sich nach einem Dirigenten sehnen. Aber warum, zum Teufel, sollte ausgerechnet ich in diesem Konzert den großen Karajan spielen? »Wann wirst du es Milo berichten?«
»Gar nicht. Ich habe heute vormittag mit ihm gesprochen, und er hat mir mit etwas anderen Worten gesagt, daß ich mich da raushalten und gefälligst um meine eigenen Angelegenheiten kümmern soll.«
»Aber es ist sein Beruf, Alex. Er wird wissen, was zu tun ist.«
»Liebling, Milo fährt an die Decke, wenn ich ihm erzähle, daß ich La Casa besucht habe.«
»Aber dieses arme Kind, dieser zurückgebliebene Junge - gibt es denn nichts, was er für ihn tun könnte?« Ich schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht genug. Sie hätten ganz bestimmt eine Erklärung dafür. Milo hat seinen Verdacht - und ich wette, er ist stärker, als er es mir gegenüber zugibt -, aber er wird durch Regeln und Prozeduren daran gehindert, etwas zu unternehmen.«
»Und du nicht«, sagte sie leise. »Keine Sorge.«
»Mach du dir selbst erst mal keine Sorgen. Ich denke nicht daran, dich irgendwie zu behindern. Ich meine das, was ich vorhin sagte.«
Ich trank mehr Wein. Meine Kehle hatte sich zusammengezogen, und die kühle Flüssigkeit linderte das unangenehme Gefühl.
Sie stand auf, blieb hinter mir stehen und legte ihre Arme um meine Schultern. Es war eine schützende Geste, nicht unähnlich der, die ich Raquel vor ein paar Stunden angeboten hatte. Dann glitt eine Hand weiter nach unten und spielte mit dem Haarstreifen, der meinen Bauch vertikal teilte. »Ich bin immer für dich da, Alex, wenn du mich brauchst.«
»Ich brauche dich immer. Aber nicht dafür, daß du dich mit solchen schrecklichen Dingen befaßt.«
»Wozu du mich brauchst, ich bin da.«
Ich stand ebenfalls auf und zog sie zu mir her, küßte ihren Hals, ihre Ohren, die Augen. Sie warf den Kopf in den Nacken, und ich drückte meine Lippen auf den warmen Puls am Halsansatz. »Gehen wir ins Bett, kuscheln«, sagte sie.
Ich schaltete das Radio im Schlafzimmer ein und suchte den Sender KKGO. Sonny Rawlins spielte eine Hornsonate. Dann drehte ich den Dimmer auf schwaches Licht und schlug die Decke zurück.
Dort kg die zweite Überraschung des Abends, ein glatter weißer Umschlag, rechteckig wie Geschäftspost und ohne irgendein Zeichen oder eine Schrift. Er war halb vom Kissen verdeckt.
»War das schon hier, als du angekommen bist?«
Sie hatte den Bademantel ausgezogen. Jetzt hielt sie ihn sich vor die Brüste und versuchte sich zu bedecken, als sei der Umschlag ein lebendiger, indiskreter Eindringling.
»Schon möglich. Ich war nicht im Schlafzimmer.«
Ich schlitzte das Kuvert mit dem Daumennagel auf und nahm das einzige, weiße, zusammengefaltete Blatt heraus. Oben stand weder ein Datum noch eine Adresse oder irgendein Zeichen. Es war nichts als ein weißes Rechteck, angefüllt mit handschriftlichen Zeichen - eine Schrift, die pessimistisch nach unten verlief. Diese spinnenartige Handschrift war mir vertraut. Ich setzte mich auf die Bettkante und las.
Lieber Doktor, hoffentlich schläfst Du in Zukunft mal in Deinem Bett, damit Du Gelegenheit hast, das hier zu lesen. Ich hab’ mir erlaubt, Deine Hintertür mit einem Nachschlüssel zu öffnen, um hereinzukommen und das hier abzugeben- Du solltest Dir übrigens mal ein besseres Schloß gönnen. Heute nachmittag wurde ich meiner Pflichten im Fall H-G enthoben. El Captain meint, daß die Untersuchung durch den Einsatz von frischem Blut nur gewinnen kann - diese geschmacklose Wortwahl ist auf seinem und nicht auf meinem Mist gewachsen. Seine Motivation ist mir durchaus verständlich, aber da ich bei meiner Arbeit als Detektiv keine neuen Rekorde habe setzen können, sah ich mich nicht in der Lage, darüber mit ihm zu debattieren. Ich muß ziemlich verdattert ausgesehen haben, denn er wurde plötzlich sehr bestimmt und schlug vor, ich sollte eine Weile Urlaub nehmen. Dabei zeigte sich, daß er ziemlich genau über die Details meiner Personalakte Bescheid wußte und auch, daß ich eine Menge
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