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Blackout

Blackout

Titel: Blackout Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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alle bis auf wenige, rudimentäre Körperfunktionen nicht mehr vorhanden. Dennoch hatte man Tausende von Dollar aufgewendet, um das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszuschieben, und dabei wurden genügend Seiten gefüllt, daß man aus dem Krankenbericht ein ganzes Lehrbuch hätte machen können. Ich blätterte diese Seiten durch: Notizen der Stationsschwester mit ihrer geradezu zwanghaften Ausstellung des Eingegebenen und Ausgeschiedenen - ein Kind, reduziert auf genau notierte Kubikzentimeter von diversen Flüssigkeiten, auf Klempnerkunst, EKG-Kurven, Notizen über den Fortschritt des Patienten - ein grausamer Witz-, Beratungsergebnisse von Besprechungen mit Neurochirurgen, Neurologen, Nephratologen, Radiologen, Kardiologen; auf die Ergebnisse der Bluttests, der Röntgenuntersuchungen, Abtastungen, der künstlichen Anschlüsse, Nähte und Wundversorgung, auf Berichte über intravenöse Ernährung, parenterale Ernährungszusätze, Atemhilfen und, zuletzt, die Autopsie. An der inneren Rückseite des Umschlags steckte der Bericht des Sheriffs, auch das ein Beispiel für sprachliche Vereinfachung durch den Berufsjargon. In diesem ganz speziellen Dialekt durch Cary Nemeth unter dem Buchstaben O wie Opfer. O war von hinten angefahren worden, während es kurz vor Mitternacht über die Malibu Canyon Road ging. Es war barfuß und trug einen Pyjama- einen gelben Pyjama; der Bericht war sorgfältig abgefaßt. Es gab keine Schleifspuren, was den berichtenden Deputy zu der Vermutung veranlaßte, daß das O mit voller Wucht getroffen worden war. Aus der Strecke, die der Körper durch die Luft geflogen war, errechnete man die Geschwindigkeit des Wagens: zwischen vierzig und fünfzig Meilen pro Stunde.
    Der Rest war Papierkram, ein Pappdeckeldessert für das Lesegerät eines Computers im Polizeipräsidium. Ein deprimierendes Dokument. Nichts darin überraschte mich. Nicht einmal die Tatsache, daß Cary Nemeths privater Kinderarzt und der Arzt, der schließlich den Totenschein ausgestellt hatte, Dr. Lionel Willard Towle hieß. Ich steckte den Bericht unter einen Stapel von Röntgenplatten, wo ihn früher oder später irgend jemand finden würde, und ging zum Lift. Zwei Elfjährige waren aus ihrer Krankenstation entkommen und veranstalteten ein Rollstuhlrennen. Sie sausten vorbei, schwangen die intravenösen Schläuche wie Lassos, und ich mußte zur Seite springen, um ihnen zu entgehen. Ich streckte den Arm aus nach dem Knopf und hörte, wie jemand meinen Namen rief.
    »Hallo, Alex.«
    Es war der medizinische Direktor des Hauses mit zwei Oberärzten. Er schickte sie weg und kam auf mich zu. »Hallo, Henry.«
    Er hatte ein paar Pfund zugelegt seit unserer letzten Begegnung; sein Hals kämpfte gegen die Strangulierung durch den zu engen Hemdkragen. Sein Teint war ungesund gerötet. Aus seiner Brusttasche ragten drei Zigarren. »Was für ein Zufall«, sagte er und gab mir seine weiche Hand. »Ich wollte Sie gerade anrufen.«
    »Tatsächlich? Weshalb denn?«
    »Sprechen wir im Büro darüber.« Er schloß die Tür und eilte hinter seinen Schreibtisch. »Und wie geht es Ihnen, mein Sohn?«
    »Prima.« Mein Vater, fügte ich in Gedanken hinzu. »Gut. Gut.« Er nahm eine Zigarre aus der Tasche und machte Masturbationsbewegungen an der Zellophanhülle. »Ich will nicht lange auf den Busch klopfen, Alex. Sie wissen, das ist nicht meine Art - ich komme lieber gleich heraus damit und sage, was ich denke. Die Leute sollen wissen, wie man zu ihnen steht, das ist seit jeher meine Philosophie.«
    »Dann tun Sie es, bitte.«
    »Ja. Hm. Also, ich sag’ es Ihnen einfach von der Leber weg.« Er beugte sich vor, entweder um zu rülpsen oder um eine Geste ernster Vertraulichkeit darzulegen. »Ich - wir haben eine Beschwerde erhalten über Ihr berufliches Verhalten als Arzt.« Dann lehnte er sich zurück, offenbar von Vorfreude erfüllt: ein Junge, der mit Spannung darauf wartet, daß sein Knallfrosch losgeht. »Will Towle?«
    Seine Augenbrauen gingen nach oben. Da es dort oben keine Knallfrösche gab, senkte er sie wieder. »Sie wissen?«
    »Sagen wir, ich kann es mir denken.«
    »Ja, also - Sie haben recht. Er ist völlig in Harnisch über eine Hypnotisierung, die Sie angeblich durchgeführt haben, und solchen Unsinn.«
    »Er ist ein Haufen Scheiße, Henry.«
    Seine Finger fummelten an dem Zellophan herum. Ich fragte mich, wie lange es her war, seit er zuletzt jemanden operiert hatte. »Ich verstehe Ihren Standpunkt, aber Will Towle ist ein wichtiger

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