Blackout
daß die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, ging ich zum Aktenschrank. Die Schublade, die sie geöffnet hatte, trug die Kennzeichnung ›Personal A-G‹. Zwei Schubladen weiter unten fand ich, was ich suchte. Und es wanderte in die Mappe.
Ich wartete an der Tür auf sie, als sie aus der Toilette kam, gerötet, rosig geschminkt, husch und nach Patschuli duftend. Ich streckte den Arm aus, und sie hakte sich bei mir unter. Bei einer Tasse Krankenhauskaffee hörte ich ihr zu. Über ihre Scheidung- eine sieben Jahre alte Wunde, die nicht heilen wollte-, die Tochter im Teenageralter, die sie verrückt machte, weil sie genau das tat, was sie selbst als junges Mädchen getan hatte, über Ärger mit dem Wagen, über die Gefühllosigkeit ihrer Vorgesetzten und die Ungerechtigkeit des Lebens.
Es war bizarr, eine Frau erst soviel später kennenzulernen, nachdem ich Jahre zuvor in ihren Körper eingedrungen war. Angesichts der Umkehrung aller Begriffe im zeitgenössischen Kopulationsritual lag mehr Intimität in ihren Kummergeschichten als in der Öffnung ihrer Schenkel.
Wir trennten uns als Freunde. »Komm mal wieder vorbei, Alex.«
»Bestimmt.«
Ich ging zum Parkplatz und wunderte mich, mit welcher Leichtigkeit es mir gelungen war, den Mantel von Lug und Trug umzulegen. Dabei war ich immer stolz gewesen auf meine Integrität. Aber in den letzten drei Tagen hatte ich mich als durchaus tüchtig erwiesen in Disziplinen wie Einschleichdiebstahl, Verschweigen der Wahrheit, offenes Lügen und emotionelle Hurerei.
Es muß an der Gesellschaft liegen, mit der ich mich letztens umgab.
Jetzt fuhr ich zu einem netten italienischen Restaurant in West Hollywood. Es hatte eben erst geöffnet, und ich saß allein in meiner Nische an der Rückwand. Ich bestellte Kalbfleisch in Weinsauce, dazu Linguini mit öl und Knoblauch, und ein Coors.
Ein schlurfender Kellner brachte das Bier. Während ich auf das Essen wartete, öffnete ich die Mappe und schaute mein Diebesgut durch.
Towles medizinische Personalakte war über vierzig Seiten dick. Das meiste davon waren Photokopien seiner Diplome, Zertifikate und Auszeichnungen. Sein Lebenslauf umfaßte zwanzig Seiten marktschreierischer Anpreisungen und Selbstlobhudeleien, in denen bemerkenswerterweise jegliche Hinweise auf gelehrte und wissenschaftliche Abhandlungen aus seiner Feder fehlten - als Assistenzarzt hatte er einen einzigen, kurzen Bericht als Ko-Autor mit einem zweiten Assistenten verfaßt, und seitdem nichts mehr-, dafür gab es um so mehr Hinweise auf Fernseh- und Rundfunkinterviews, Reden vor Laiengruppen, seinen freiwilligen Dienst in La Casa und ähnlichen Organisationen. Dennoch war er ordentlicher Professor an einer der bedeutendsten medizinischen Hochschulen. Soviel zur vielgerühmten akademischen Objektivität. Der Kellner brachte einen Salat und einen Bastkorb mit frisehen Brötschen. Ich nahm mit der einen Hand die Serviette und wollte gerade die Personalakte wieder in die Mappe stekken, als mir etwas auf der ersten Seite der Zusammenfassung in die Augen stach.
Unter Besuchte Hochschule oder Universität hatte er ›Jedson College, Bellevue, Washington‹ eingetragen.
20
Ich kam heim, rief bei der L.A. Times an und fragte nach Ned Biondi von der Lokalredaktion. Biondi war ein leitender Journalist des Blattes, ein kleiner, nervöser Typ, der direkt aus der TV-Serie ›Titelseite‹ stammen konnte. Ich hatte seine Teenager-Tochter vor einigen Jahren wegen nervöser Appetitlosigkeit behandelt. Biondi war bei seinem Journalistengehalt - einschließlich seiner Neigung, in Santa Anita grundsätzlich aufs falsche Pferd zu setzen - nicht in der Lage gewesen, das Honorar für die Behandlung zu bezahlen, aber das Mädchen hatte wirklich Schwierigkeiten gehabt, und ich hatte es gut sein lassen. Er hatte eineinhalb Jahre gebraucht, um seine Schuld zu begleichen. Seine Tochter war schließlich normal geworden, nachdem ich monatelang Lage für Lage ihres Selbsthasses abgebaut hatte - eine Gemütsstörung, wie sie überraschenderweise gelegentlich bei Siebzehnjährigen vorkommt. Ich erinnerte mich sehr gut an sie: ein großes, dunkles Mädchen, das gern Joggingshorts und T-Shirts trug, die ihren skelettartig mageren Körper noch betonten; ein Mädchen mit aschfahlem Gesicht und Spindelbeinen, das zwischen tiefem, dunklem, brütendem Schweigen und Anfällen von Hyperaktivität wechselte, wobei sie jeden olympischen Wettbewerb unter der Voraussetzung einer Diät von dreihundert
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