Blackout
hatte es sich noch verstärkt, so daß ich wie eine Raubkatze auf der Jagd durchs Haus schlich.
Um halb acht fand ich, daß es spät genug war. Ich rief Bonita Quinns Nummer an. Sie war hellwach, und es hörte sich so an, als ob sie meinen Anruf erwartet hätte. »Morgen, Doktor.«
»Guten Morgen. Ich dachte, ich komme vorbei und verbringe ein paar Stunden mit Sarah.«
»Warum nicht? Sie hat ja nichts vor. Wissen Sie…« Jetzt senkte sie die Stimme. »Ich glaube, sie mag Sie. Sie hat dauernd davon geredet, wie Sie mit ihr gespielt haben.«
»Das ist gut. Wir werden auch heute miteinander spielen. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«
Als ich ankam, war sie angezogen und zum Ausgehen bereit. Ihre Mutter hatte ihr ein hellgelbes Kleidchen angezogen, das ihre knochigen weißen Schultern und die dünnen Ärmchen freigab. Ihr Haar war nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden und wurde von einem gelben Band zusammengehalten. In der Hand hatte sie ein winziges Täschchen aus Lederol. Ich hatte gedacht, wir würden erst eine Weile in ihrem Zimmer miteinander spielen und dann irgendwohin zum Essen fahren, aber es war klar, daß die Mutter annahm, wir wollten gleich ausgehen. »Hallo, Sarah.«
Sie wandte sich ab und lutschte am Daumen. »Du siehst sehr hübsch aus heute morgen.« Jetzt lächelte sie scheu.
»Ich dachte, wir fahren irgendwohin und gehen in einen Vergnügungspark. Was meinst du?«
»Okay.« Die zitternde Stimme.
»Prima.« Ich steckte den Kopf in die Wohnung. Bonita Quinn schubste den Staubsauger vor sich her, als wäre er eine Wagenladung voller Sünden. Sie hatte sich ein blaues Tuch um den Kopf gebunden, und in ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette. Das Fernsehen war auf eine Gospel-Sendung eingestellt, aber das Bild schneite, und der fromme Chor wurde vom Staubsauger übertönt.
Ich berührte die Frau an der Schulter, sie fuhr herum. »Wir gehen jetzt los, okay?« brüllte ich.
»Okay.« Als sie sprach, wippte die Zigarette zwischen ihren Lippen auf und ab.
Dann fuhr sie in ihrer Arbeit fort, bückte sich über die brüllende Maschine und pflügte weiter durch die Wohnung. Ich trat wieder hinaus zu Sarah. »Fahren wir.«
Sie ging neben mir her. Auf halbem Weg zum Parkplatz schlüpfte eine kleine Hand in die meine.
Über eine Serie von Haarnadelkurven und Abkürzungen kamen wir zur Ocean Avenue. Ich bog nach Süden ein, in Richtung auf Santa Monica, bis wir den Vergnügungspark oben auf den Klippen erreichten, von dem aus man auf die Küstenstraße hinunterschauen konnte. Halb neun Uhr morgens: der Himmel klar und nur mit einer Handvoll kleiner Wolken getupft, die so weit weg waren, daß man denken konnte, sie seien noch drüben in Hawaii. Ich fand einen Parkplatz an der Straße direkt vor der Camera Obscura und dem Erholungszentrum für Senioren.
Selbst um diese frühe Zeit war hier eine Menge los. Alte Leute saßen auf den Bänken und um den Shuffleboard-Platz herum. Manche redeten pausenlos mit den anderen oder auch mit sich selbst; andere starrten wie in Trance hinaus auf den Boulevard. Langbeinige Mädchen in knappen, eng anliegenden Oberteilen und Satinhöschen, die höchstens ein Zehntel ihres Hinterteils bedeckten, verwandelten die Wege zwischen den Palmen in Fleischbeschau-Promenaden. Einige hatten ihren Walkman bei sich und die Kopfhörer aufgesetzt - eilige Wesen vom anderen Stern mit gelackten, beseligten Mienen auf ihren perfekten kalifornischen Gesichtern.
Japanische Touristen machten Schnappsschüsse, gaben sich Rippenstöße, zeigten mit Fingern und lachten. Penner lungerten am Geländer, welches das bröckelnde Steilufer vom begehbaren Teil des Parks abgrenzte. Sie rauchten hinter hohlen Händen und betrachteten die Welt voll Mißtrauen und Angst. Eine überraschend große Zahl davon waren junge Männer. Sie sahen alle aus, als ob sie eben aus einem tiefen, dunklen und unergiebigen Kohlebergwerk gekrochen wären. Es gab Studenten, die lasen, Paare, die auf dem Gras lagen, kleine Jungen, die zwischen den Bäumen hindurchflitzten, und ein paar Leute, die sich flüchtig trafen, was mir verdächtig nach Rauschgiftkontakten aussah.
Sarah und ich gingen am äußeren Rand des Parks entlang, Hand in Hand, und sprachen wenig miteinander. Ich bot ihr eine Brezel von einem Straßenverkäufer an, doch sie sagte, sie habe keinen Hunger. Mir fiel ein, daß Appetitverlust zu den Nebenwirkungen von Ritalin gehörte. Aber vielleicht hatte sie auch erst vor kurzem gut gefrühstückt.
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