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Blackout

Blackout

Titel: Blackout Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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T-Shirt, eine Jeans und schwarze Schaftstiefel. Neben ihm war der Rumpf eines Motorrades zu sehen. Er kam mir vor wie ein sehr seltsamer Vogel. Seine eine Seite - die linke - hing etwas nach unten, und es gab mehr als einen Hinweis darauf, daß sein Körper auf dieser Seite von Kopf bis Fuß atrophiert war. Er wirkte irgendwie verschoben, wie eine Frucht, die man auseinandergeschnitten und dann etwas unachtsam wieder zusammengesetzt hat. Von der mangelnden Symmetrie abgesehen, war er gar nicht so häßlich: groß, schlank, mit schulterlangem, blondem Haar und einem buschigen Schnauzbart.
    Er hatte einen wissenden Ausdruck im Gesicht, der in gewissem Kontrast zu Bonitas mürrischem Ernst stand. Es war der Ausdruck, wie man ihn bei betrunkenen Stammgästen findet, wenn man an einem abgelegenen Ort eine kleine Kneipe betritt. Leuten mit solchem Ausdruck geht man lieber aus dem Weg, weil er nichts als Ärger bedeutet.
    Es wundert mich nicht, daß der Mann, der diesen Ausdruck zeigte, hinter Gittern gelandet war.
    »Da, ich hab’s schon gesehen.« Ich gab ihr das Photo wieder zurück, und sie verstaute es behutsam in ihrem Täschchen.
    »Willst du noch mal fahren?«
    »Nee. Ich bin irgendwie müde.«
    »Willst du heim?«
    »Ja.«
    Auf der Rückfahrt war sie sehr still, fast so, als ob sie wieder ihr Beruhigungsmittel geschluckt hätte. Ich wurde das unangenehme Gefühl nicht los, ich hätte diesem Kind geschadet, als ich es überstimulierte und dann in sein trübseliges Leben zurückkehren ließ.
    Oder war ich bereit, auch in Zukunft und auf regelmäßiger Basis den Retter zu spielen?
    Ich mußte an die Abschlußvorlesung denken, die einer der älteren Professoren uns jungen, vielversprechenden, zukünftigen Psychotherapeuten gegeben hatte.
    ›Wenn Sie die Absicht haben, Ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, daß Sie den Menschen helfen, die sich in emotionalen Schwierigkeiten befinden, dann entscheiden Sie sich gleichzeitig dazu, ihre Last eine Weile auf Ihren Schultern mitzutragen. Und ich sage Ihnen dennoch: Zum Teufel mit all dem Gerede von der Verantwortung, die man dabei übernimmt. Das ist Anmaßung, und obendrein ist es Quatsch. Sie begegnen von nun an an jedem Tag Ihres Lebens einer Manifestation von menschlicher Hilflosigkeit. Ob Sie es wollen oder nicht, ob es Ihnen das Verantwortungsbewußtsein vorschreibt oder nicht: Ihre Patienten werden sich Ihnen einprägen wie die kleinen Gänschen, die sich an das erste Lebewesen klammern, das sie sehen, nachdem sie den Kopf aus dem Ei gesteckt haben. Wenn Sie damit nicht fertigwerden, müssen Sie Buchhalter werden.‹ In diesem Augenblick wäre mir ein Kontobuch voller Zahlen ein willkommener Anblick gewesen.

7
    Um halb acht fuhr ich hinaus zu Robins Studio. Ich hatte sie seit einigen Tagen nicht gesehen, und sie fehlte mir. Als sie die Tür öffnete, trug sie ein hauchdünnes weißes Kleid, das den Olivton ihrer Haut unterstrich. Das Haar fiel ihr lose um die Schultern, und in den Ohren trug sie große, goldene Ringe.
    Sie kam auf mich zu, und wir umarmten uns lange. Dann gingen wir, noch immer eng umschlungen, hinein. Robin arbeitet und wohnt in einem alten Ladengeschäft an der Pacific Avenue in Venice. Wie viele anderen Studios in der näheren Umgebung ist es von außen nicht durch Schriften oder ein Schild gekennzeichnet, und die Fenster sind undurchsichtig weiß gestrichen.
    Sie führte mich am Vorderteil ihrer Behausung vorbei, der Werkstatt mit den Motorwerkzeugen, der Tischsäge, der Bandsäge, dem Bohrtisch - vorbei an Stapeln von Holz, Instrumentenformen, Stemmeisen, Zollstäben und Schablonen. Wie immer roch es hier nach Sägespänen und nach Leim. Der Boden war mit Sägemehl bedeckt.
    Sie stieß die doppelte Schwingtür auf, und wir waren in ihrem Wohnbereich: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer in einem kleinen Loft, Badezimmer, kleines Büro. Im Gegensatz zum Arbeitsbereich lagen in den Wohnräumen alle Dinge an ihrem Platz. Sie hatte den größten Teil der Möbel selbst angefertigt, und das meiste war solides Hartholz, einfach und elegant. Sie ging mit mir zu einer weichen, baumwollbezogenen Couch, wo ich mich setzte. Auf einem Keramiktablett standen Kaffee und Kuchen; Teller, Gabeln und Servietten lagen bereit. Jetzt kuschelte sie sich neben mich. Ich umschloß ihr Gesicht mit beiden Händen und küßte sie.
    »Hallo, Liebling.« Sie legte einen Arm um mich. Ich fühlte den muskulösen Rücken unter dem dünnen Stoff, eine Kraft, die in nachgiebige,

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