Blackout
gepolsterten Sesseln. Er ließ sich in einen Drehsessel nieder, der protestierend aufstöhnte, verschränkte die Finger ineinander und beugte sich zum Schreibtisch vor, der jetzt wie ein Miniaturexemplar aussah. »Ich nehme an, Tim hat Ihnen alles Wichtige gezeigt und all Ihre Fragen beantwortet.«
»Er war sehr entgegenkommend.«
»Guuut«, sagte er und zog das eine Wort so in die Länge, als ob es drei Silben hätte. »Er ist ein sehr brauchbarer junger Mann. Ich suche mir mein Personal persönlich aus.« Er zwinkerte. »Genauso, wie ich all meine freiwilligen Helfer persönlich aussuche. Wir wollen für unsere Kinder nur die Besten von den Guten.«
Er lehnte sich zurück und legte die Hände auf den Bauch. »Ich bin überaus erfreut, Doktor, daß ein Mann Ihres beruflichen und persönlichen Hintergrunds in Erwägung zieht, unserer Brigade beizutreten. Wir hatten noch nie einen Kinderpsychologen bei den Gentlemen. Tim sagte mir, Sie seien im Ruhestand.«
Er schaute mich jovial an. Natürlich erwartete er, daß ich es ihm näher erläuterte.
»Ja. Das stimmt.«
»Hm.« Er kratzte sich hinter einem Ohr und lächelte immer noch. Und wartete. Ich erwiderte das Lächeln. »Wissen Sie«, sagte er schließlich, »schon als mir Tim von Ihrem Besuch berichtete, dachte ich, daß mir Ihr Name bekannt wäre. Aber ich wußte nicht, wo ich Sie hinstecken sollte. Dann ist es mir eingefallen, jetzt eben. Sie haben das Programm entwickelt für diese Kinder, die die Opfer dieses Kinderhort-Skandals waren, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wunderbare Arbeit. Wie geht es den Kindern jetzt?«
»Recht gut.«
»Sie - Sie haben sich in den Ruhestand versetzen lassen, kurz nachdem das Programm zu Ende war, ja?«
»Ja.«
Er schüttelte betrübt sein riesiges Haupt.
»Tragische Affäre. Der Mann hat sich erschossen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Das stimmt.«
»Doppelt tragisch. Die Kleinen in dieser Weise mißbraucht, und ein Menschenleben vergeudet ohne Aussicht auf das Heil oder« - er lächelte-, »um einen weltlicheren Begriff zu verwenden: ohne die Chance einer Rehabilitation. Es ist ein und dasselbe: die Rettung des Seelenheils oder die Rehabilitation, finden Sie nicht, Doktor?«
»Die beiden Konzepte enthalten zumindest einige Ähnlichkeiten. «
»Zweifellos. Es hängt nur von der Perspektive des einzelnen ab.« Er seufzte. »Ich gestehe, daß es mir manchmal nicht leicht fällt, mich von meiner religiösen Erziehung zu trennen, wenn es um Themen menschlicher Beziehungen geht. Ich muß manchmal geradezu darum kämpfen angesichts der in unserer Gesellschaft bestehenden Furcht vor einer noch so minimalen Bindung zwischen Kirche und Staat.«
Das war kein Protest; das breite Gesicht war durchflutet von gelassener Ruhe, welche die süßen Früchte des Märtyrertums nährte. Er sah aus, als ob er mit sich im Frieden wäre, zufrieden wie ein Rhinozeros, das sich in einem Schlammloch in der Sonne suhlte.
»Glauben Sie, daß dieser Mann - ich meine, der sich getötet hat - rehabilitiert hätte werden können?« fragte er mich jetzt. »Schwer zu sagen. Ich habe ihn nicht gekannt. Die Statistiken über die Behandlungserfolge bei Pädophilen sind nicht gerade ermutigend.«
»Statistiken.« Er spielte mit dem Wort, ließ es sich satt von der Zunge rollen. Offenbar genoß er den Klang seiner eigenen Stimme. »Statistiken sind kalte Zahlen, nicht wahr? Ohne Einsicht für das Individuum. Und wie Tim mir mitteilt, haben Statistiken auf einer mathematischen Ebene keinerlei Relevanz für das Individuum. Ist das richtig?«
»Das stimmt.«
»Wenn die Leute die Statistiken zitieren, werde ich an den Okie-Witz erinnert- Witze über die Leute aus Oklahoma waren vor Ihrer Zeit in Mode, wissen Sie. Also, da war diese Okie-Frau, die relativ gelassen nacheinander zehn Kinder geboren hatte, sich aber furchtbar aufregte, als sie erfuhr, daß sie mit dem elften schwanger war. Ihr Arzt fragte sie, warum sie diesmal, nachdem sie schon so oft die Mühen der Schwangerschaft und Geburt hinter sich gebracht hatte, so aufgeregt sei. Und sie antwortete ihm, sie haben gehört, daß jedes elfte in Oklahoma geborene Kind ein Indianer sei, und sie habe keine Lust, nun auch noch ein Indianerkind aufziehen zu müssen.« Er lachte, sein Bauch hob und senkte sich, und die Augen waren schwarze Schlitze. Die Brille glitt ihm auf der breiten Nase nach unten, und er schob sie wieder zurecht. »Das, Doktor, ist kurz ausgedrückt meine Meinung über Statistiken. Sie
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