Blackout
vergangenen Jahr.«
Als Raquel übersetzte, breitete sich ein nostalgisches Lächeln auf dem Gesicht der alten Mexiko-Amerikanerin aus.
»Sie meint, Elena hätte sich höchstens mal beklagt, daß die Lehrer nicht genug bezahlt bekommen. Daß ihre Arbeitszeiten lang und die Kinder oft schwierig seien.«
»Hat sie von bestimmten Kindern berichtet?«
Eine geflüsterte Besprechung.
»Nein, nicht über ein bestimmtes Kind. Die Senora erinnert daran, daß Elena Lehrerin an einer Sonderklasse war und sich in erster Linie mit lernbehinderten Kindern befaßte. Alle Kinder, mit denen sie zu tun hatte, waren schwierig.« Ich fragte mich, ob es einen Zusammenhang gab zwischen dem Aufwachsen mit einem Bruder wie Rafael und der Entscheidung Elenas, sich mit lerngestörten Kindern zu befassen. »Hat sie überhaupt über den Jungen gesprochen, der bei dem Verkehrsunfall umgekommen ist? Und der Nemeth hieß?« Schon während sie die Übersetzung der Frage anhörte, nickte Mrs. Gutierrez traurig, dann sprach sie ein paar Sätze mit Raquel.
»Sie hat es ein- oder zweimal erwähnt. Sie sagt, daß Elena sehr traurig darüber war. Das Ganze sei eine Tragödie gewesen.«
»Sonst nichts?«
»Es wäre sehr unhöflich, in der Richtung weiterzubohren, Alex.«
»Okay. Versuchen Sie es mit einer anderen Frage. Hatte Elena in letzter Zeit mehr Geld als sonst zur Verfügung? Hat sie der Familie teure Geschenke gemacht?«
»Nein. Sie sagt, daß sich Elena immer beklagt habe, nicht genug Geld zu haben. Elena war ein Mädchen, das gern schöne Sachen um sich hatte. Hübsche, teure Sachen. Einen Augenblick. « Sie hörte der älteren Frau zu, nickte zustimmend. »Das war nicht immer möglich, weil die Familie nie genug Geld zur Verfügung hatte. Auch nicht, als der Mann von Mrs. Gutierrez noch lebte. Aber Elena hat sehr hart gearbeitet. Sie hat sich das eine oder andere gekauft. Manchmal auf Raten, aber sie hat sie immer bezahlt. Nichts ist ihr gepfändet oder wieder weggenommen worden. Sie war ein Mädchen, das eine Mutter stolz machte.«
Ich war auf weitere Tränen vorbereitet, aber sie blieben aus. Die trauernde Mutter schaute mich mit einem kalten, dunklen, zugleich herausfordernden Ausdruck an. Wage es nicht, hieß diese Miene, das Andenken an mein kleines Mädchen in den Schmutz zu ziehen. Ich wandte mich ab.
»Glauben Sie, ich kann sie jetzt nach Handler fragen?« Bevor Raquel antworten konnte, spuckte Mrs. Gutierrez aus. Sie gestikulierte mit beiden Händen, hob die Stimme und gab Worte von sich, die wie eine Kette von Verwünschungen klangen. Und sie endete damit, daß sie noch einmal ausspuckte.
»Muß ich es übersetzen?«
»Machen Sie sich keine Mühe.« Ich überlegte mir eine andere Strategie, um weitere Fragen zu stellen. Normalerweise hätte ich mit harmlosem, beiläufigem Geplauder begonnen und wäre dann allmählich auf direkte Fragen umgeschwenkt. Diese holperige Art, das Gespräch zu führen, behagte mir ganz und gar nicht, aber die Arbeit mit einem Dolmetscher war nun einmal so, wie wenn ein Chirurg mit Gartenhandschuhen operierte.
»Fragen Sie sie, ob sie uns irgend etwas sagen kann, das uns hilft, den Mann zu finden, der - na ja, formulieren müssen Sie es selbst.«
»Sie sagt, da ist nichts. Daß die Welt ein verrückter Ort geworden ist, voll von Dämonen und bösen Geistern. Und daß ein Dämon Elena das angetan haben muß.«
» Muchas gracias, Senora! Fragen Sie sie, ob ich mich unter Elenas persönlichen Hinterlassenschaften umsehen darf.« Raquel stellte ihr die Frage, und die Mutter der Toten überlegte. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, seufzte und stand schließlich auf.
» Vierte«, sagte sie und ging voraus zur Rückseite des Hauses. Der Krimskrams von Elena Gutierrez’ achtundzwanzig Lebensjahren war in Pappkartons gepackt und in einer Ecke verstaut worden, die in dem kleinen Haus als Lagerraum benützt wurde. Es gab eine Tür mit Fenster, die hinausging auf den hinteren Garten. Dort wuchs ein knorriger, verkrüppelter Aprikosenbaum, der seine schwer Früchte tragenden Äste über dem Dach einer zerfallenden Garage ausbreitete. Auf der anderen Seite des kleinen Korridors war ein Schlafzimmer mit zwei’ Betten, das Domizil der Brüder. Von dort aus, wo ich kniete, konnte ich eine Kommode aus Ahornholz sehen und Regale, die aus ungehobelten Brettern und Ziegelsteinen zusammengebaut waren. Auf den Regalen standen eine billige Stereoanlage und eine bescheidene Schallplattensammlung. Auf der Kommode
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