Blackout
Untersuchung von Elenas Fall beschäftigt.« Sein Gesicht zeigte Besorgnis, die Hände klammerten sich noch fester um die Armlehnen des Sessels. Dann, als gehorchte er einer inneren Anweisung, sich zu entspannen, grinste er mich an, rutschte etwas tiefer und blinzelte dazu. »Ja, ja«, sagte er.
Ich hielt ihm die Hand hin. Er schaute sie überrascht an, erkannte sie als lange vermißten Freund und streckte mir seine eigene, magere Klaue entgegen.
Sein Arm war geradezu jämmerlich unterernährt, ein Knochenbündel, das in blasses Pergament eingewickelt war. Als sich unsere Finger berührten, rutschte der’ Ärmel weiter nach oben, und ich sah die Narben. Es gab viele; die meisten sahen alt aus wie klumpige Kohlenflecken, aber es gab auch neue, die frisch und rosa leuchteten. Vor allem eine, in deren Mittelpunkt noch ein getrockneter Blutstropfen zu erkennen war. Sein Händedruck war feucht und schlapp. Ich ließ die Hand los, und der Arm fiel einfach nach unten. »Hey, Mann«, sagte er kaum hörbar, »freut mich, Sie kennenzulernen.« Er wandte sich ab, verloren in seiner eigenen, zeitlosen Traumhölle. Jetzt erst hörte ich die Oldies-Musik, die aus einem billigen Transistorradio auf dem Boden neben seinem Sessel kam. Der Plastikkasten knackte von statischen Geräuschen. Die Empfangsqualität war schrecklich; die Musik hörte sich so an, als ob sie unter der Bettdecke gesendet würde. Rafael hatte den Kopf in den Nacken geworfen und war hingerissen. Für ihn war es der himmlische Chor, der direkt in sein Schläfenbein drang. »Rafael…« Sie lächelte.
Er schaute sie an, erwiderte das Lächeln, nickte und war weggetreten.
Sie starrte ihn an, Tränen in den Augen. Ich ging auf sie zu, und sie wandte sich ab in Zorn und Scham.
»Verdammt!«
»Seit wann fixt er schon?«
»Seit Jahren. Aber ich dachte, er hätte aufgehört damit. Zuletzt hieß es, er hätte aufgehört.« Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und schwankte, als ob sie gleich umfallen würde. Ich kam ihr zu Hilfe, doch sie hatte sich schon wieder gefangen. »Er ist in Vietnam süchtig geworden und hat die Sucht mitgebracht. Elena hat viel Zeit und Geld aufgewendet, um ihm zu helfen, daß er von dem Zeug loskommt. Er hat es dutzendmal versucht, und immer ist er wieder rückfällig geworden. Aber dann war er über ein Jahr clean. Elena war so glücklich darüber. Er hat einen Job bekommen als Packer in der Filiale von ›Lucky’s‹ am Alvarado Boulevard.« Sie schaute mich an, hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen, und ihre Augen schwammen wie schwarze Lilien in einem salzigen Teich. Dazu zitterten die Lippen wie Harfensaiten. »Alles bricht zusammen.«
Sie hielt sich am Geländerpfosten der Veranda fest. Ich trat hinter sie. »Tut mir leid.«
»Er war immer der gefühlvollere von den beiden. Still, nie mit Mädchen verabredet, keine Freunde. Er wurde viel verprügelt. Als ihr Dad starb, versuchte er, dessen Rolle zu übernehmen und den Mann im Haus zu spielen. Nach der Tradition ist das die Aufgabe des ältesten Sohns. Aber es hat nicht geklappt. Keiner hat ihn ernst genommen. Sie haben ihn ausgelacht. Wir alle. Also gab er auf, so, als ob er die Prüfung nicht bestanden hätte. Er ging nicht mehr zur Schule, blieb einfach zu Hause, las Comics und schaute den ganzen Tag .in die Glotze. Als man ihn zum Militär einzog, schien er froh darüber zu sein. Mama Cruz hat geweint, weil er fortgegangen ist, aber er selbst war glücklich darüber…«
Ich schaute ihn an. Er war so weit nach hinten gesackt, daß er fast parallel zum Boden auf dem Stuhl lag, aufgesogen in seinem Rauschgift-Schlummer. Er hatte den Mund offen und schnarchte laut. Das Radio spielte ›Daddy’s Home‹. Raquel schaute ihn noch einmal an, dann riß sie den Kopf angeekelt zur Seite. Auf ihrem Gesicht war eine edle Leidensmiene zu erkennen, eine aztekische Jungfrau, die sich Mut und Kraft zuspricht zum Opfergang.
Ich legte meine Hände auf ihre Schultern, und sie lehnte sich zurück in meine Arme. Dort blieb sie, gespannt und ohne nachzugeben, und gönnte sich eine kleine Ration Tränen.
»Das ist ein böser Anfang«, sagte sie, atmete tiefein und stieß dann heftig die Luft aus. Anschließend wischte sie sich die Augen aus und drehte sich um. »Sie müssen denken, ich kann nichts als heulen. Kommen Sie, gehen wir hinein.« Sie zog die Fliegengittertür auf, und der Rahmen schlug hart gegen die Holzwand des Hauses.
Wir kamen in ein kleines Vorderzimmer, das mit alten,
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