Blackout - Kein Entrinnen
echt macht oder nicht.«
»Du hast mir gefehlt.« Er hob die Hand, berührte meine Wange so sacht, dass es mir einen Stich ins Herz versetzte. Ich legte meine Hand auf seine und drückte seine Finger flach auf meine Haut. Er seufzte. »Du bist gestorben, George. Ich habe dich erschossen, und du bist gestorben.«
»Nein. Du hast Georgia Mason erschossen.« Er zuckte zurück, zog aber seine Hand nicht weg. Ich zwang mich weiterzureden. Wenn ich es jetzt nicht aussprach, wo wir zum ersten Mal allein waren, würde ich es nie sagen. Und es musste gesagt werden. »Du hast eine Frau erschossen, deren genetisches Muster ich teile. Ich besitze siebenundneunzig Prozent ihrer Erinnerungen. Ich erinnere mich daran, wie ich mit dir aufgewachsen bin. Ich erinnere mich an meinen ersten Blogeintrag. Ich erinnere mich sogar ans Sterben. Ich erinnere mich an alles bis zu dem Zeitpunkt, als du abgedrückt hast.«
»George …«
»Ich erinnere mich, wie ich dabei gedacht habe, dass ich die glücklichste Frau auf der ganzen Welt war, weil du da warst, um es zu tun. Doch diese Erinnerungen sind nicht allein die meinigen. Verstehst du das?«
»Für mich bist du genug Georgia«, sagte er und zog schließlich doch seine Hand weg. »Keiner von uns ist vollkommen. Nicht mehr.«
Ich nickte. Na denn, gut. Wenn ich sie sein sollte, dann würde ich sie auch sein. »Du hast mich gerettet.«
Shaun senkte den Kopf. Es wäre ein Nicken gewesen, wenn er den Kopf anschließend wieder gehoben hätte. Stattdessen sah er zu Boden, und langsam rollten ihm Tränen über die Wangen. »Ich wollte mit dir sterben.«
»Du bist nicht gestorben.« Ich fasste erneut seine Hand und drückte sie. »Du hast weitergemacht. Und nun bin ich zurück, und wir können die Sache gemeinsam zu Ende bringen.«
Er hob seine Hand und sah mich besorgt an. »Was, wenn dir dabei wieder etwas passiert?«
»Wir können nicht immer mit ›was wäre wenn‹ leben, Shaun. Wenn wir das tun, hätte ich genauso gut tot bleiben können.« Ich lächelte ein wenig. »Gibt es hier einen Verbandskasten? Ich will mir ein Sprühpflaster auf die Füße machen.«
»Was? Oh!« Er richtete sich auf, und als er merkte, dass er etwas zu tun hatte und nicht nur besorgt herumzustehen brauchte, bis Mahir sich meldete und zum Aufbruch blies, war er sofort wieder der Alte. »Hier lang.«
Er führte mich ins Bad. Die Durchsuchung des Arzneischranks förderte einen Verbandskasten zutage, der so manchem Krankenhaus zur Ehre gereicht hätte. Ich setzte mich auf den Rand der Badewanne, worauf er mir die Füße mit einem feuchten Tuch abwischte. Dann sprühte er ein schnell trocknendes Pflaster darauf. Es war wie eine künstliche Haut, porös genug, damit die Wunden heilen konnten, aber auch so dick, dass es zu keiner Infektion kommen konnte. Ich hatte das Zeug schon öfter benutzt, jedoch niemals für eine derart große Fläche. Es ist erstaunlich, wie groß einem die eigenen Fußsohlen plötzlich erscheinen, wenn man es erst einmal geschafft hat, die Haut davon herunterzuschmirgeln.
Als das Pflaster trocken war, wickelte er sicherheitshalber eine Schicht Mull um meine Füße. Ich hielt ihn nicht davon ab. Ich sah ihm einfach nur dabei zu, musterte seine angespannte Haltung und die frischen grauen Haarsträhnen an den Schläfen, die trotz der blond gebleichten Strähnen sichtbar blieben. Ich merkte, wie aus der Anspannung ein Entschluss wurde. Deshalb war ich nicht überrumpelt, als er sich erhob, sich vorbeugte und mich küsste.
Manchmal habe ich mich gefragt, wie es sein konnte, dass die Leute sich die Sache nicht zusammenreimten. Wie viele sogenannte Geschwister teilen sich nach der Pubertät noch ein Hotelzimmer oder schlafen in Räumen, die miteinander verbunden sind? Keiner von uns ist je mit jemand anders ausgegangen. Wir sind nie ohne den anderen auf eine Schulveranstaltung gegangen. Wir haben an den herkömmlichen gesellschaftlichen Ritualen nie teilgenommen, und doch nahmen die Leute an, wir wären noch zu haben. Nicht dass wir, bevor wir überhaupt um solche Dinge wussten, jemals zu haben gewesen wären.
Zehn Minuten später waren wir noch immer im Bad, als jemand an die Zimmertür klopfte und sich die höfliche Stimme des Hotels meldete: »Mr. Mason, die von Ihnen bestellten Artikel sind angekommen. Wünschen Sie sie jetzt entgegenzunehmen, oder sollen Sie für ein andermal bereitgelegt werden?«
Mit erhitzten Wangen rückte Shaun von mir ab. »Äh …«, sagte er. Dann setzte er,
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