BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
anderen dazu aufzufordern, selbst eine Entscheidung treffen zu dürfen? War es damit aber nicht wieder genügend bei Bewusstsein, um nicht – er wagte es kaum, das Wort zu denken – eingeschläfert zu werden? Diese und andere Gedanken jagten in diesem Moment gleichzeitig durch seinen Kopf. Doch hier ging es nicht mehr nur theoretisch um Sterbehilfe. Die Ärztin war deutlich gewesen. Verschwinden Sie. Oder helfen Sie diesen Menschen. Geschickte Frau. Sie hatte nicht gefordert: »Helfen Sie uns.« Nein, mit einem simplen rhetorischen Trick hatte sie die – vorgebliche – Selbstlosigkeit ihrer Handlung betont. Manzano wurde so nicht zum Komplizen, sondern durfte sich als Wohltäter fühlen. Was ihm nicht gelang. Er musste sich an der Wand abstützen. Erst jetzt spürte er, wie der Pfleger sich gefühlt haben musste, aber auch, was die Ärztin empfand. Er umfasste die Griffe seiner Krücken, richtete sich auf.
»Was soll ich tun?«
»Seien Sie einfach da«, antwortete die Ärztin mit sanfter Stimme. »Glauben Sie, dass Sie das können?«
Manzano nickte.
Sie wandte sich der einsamen Gestalt in dem Bett hinter ihnen zu, die Manzano erst jetzt im Schein der Taschenlampen ausmachte. Er und der Pfleger folgten ihr. Das Gesicht gehörte einer Frau, die Wangen waren eingefallen, die Augen geschlossen. Manzano entdeckte kein Lebenszeichen.
»Halten Sie ihre Hand«, forderte die Ärztin ihn auf.
»Was ist mit ihr?«, fragte Manzano, während er sich an den Bettrand setzte.
»Multiples Organversagen«, antwortete die Ärztin.
Zögerlich griff Manzano nach der Hand. Es war eine zarte Hand, mit schlanken, gepflegten Fingern. Sie fühlte sich kalt und klamm an. Manzano spürte keine Reaktion auf seine Berührung, reglos lag sie in seiner. Wie ein kleiner, toter Fisch, dachte er, auch wenn ihm der Vergleich nicht gefiel.
Die Ärztin bereitete eine weitere Spritze vor.
»Sie heißt Edda und ist vierundneunzig«, flüsterte sie dabei. »Vor drei Wochen hatte sie einen schweren Schlaganfall, ihr dritter in zwei Jahren. Ihr Gehirn erlitt massive Schäden. Sie hat keine Chance, je wieder aufzuwachen. Vor einer Woche kam noch ein Lungenödem dazu, seit vorgestern setzten Nieren und andere Organe aus. Unter normalen Umständen würde ich ihr vielleicht noch vierundzwanzig Stunden geben. Doch die Geräte sind ausgefallen.«
Sie hatte die Flüssigkeit von der Ampulle in die Spritze gesaugt. Als Nächstes wiederholte sie die Prozedur mit dem Schlauch des Infusionsbeutels, den Manzano bereits im Nebenraum beobachtet hatte.
»Ihr Mann ist seit Jahren tot, ihre Kinder leben in der Nähe von Berlin und Frankfurt. Vor dem Stromausfall haben sie es noch einmal geschafft, hierherzukommen.«
Manzano merkte, dass er während der Erzählung der Ärztin unwillkürlich die Hand der alten Frau zu streicheln begonnen hatte.
»Sie war Lehrerin für Deutsch und Geschichte«, fuhr die Ärztin fort. »Das haben mir die Kinder erzählt.«
Vor Manzanos innerem Auge erschienen Bilder einer jüngeren Edda, in verblichenen Farben, so wie auf den alten Aufnahmen seiner eigenen Großeltern. Ob sie Enkel hatte? Erst jetzt entdeckte er das kleine, gerahmte Bild auf dem Rollcontainer neben ihrem Bett. Manzano musste sich nach vorne beugen, um mehr zu erkennen. Es zeigte ein älteres Paar, feierlich gekleidet, umringt von neun Erwachsenen und fünf Kindern verschiedensten Alters, ebenfalls extra hergerichtet für das Bild, das offensichtlich im Studio eines Fotografen aufgenommen worden war. Damals musste ihr Mann noch gelebt haben.
Die Ärztin hatte ihre Arbeit erledigt, stöpselte den Schlauch wieder an den Infusionsbeutel. »Es dauert etwa fünf Minuten«, flüsterte sie. »Wir gehen zu den anderen. Brauchen Sie eine der Taschenlampen?«
Manzano verneinte und sah ihnen nach, als sie den Raum verließen. Im Dunkel hielt er Eddas Hand und spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen.
Er begann auf sie einzureden, weil er die Stille nicht ertrug. Italienisch, weil es ihm am leichtesten fiel. Er erzählte von seiner Kindheit und Jugend in einer Kleinstadt nahe Mailands, von seinen Eltern, wie sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren und er nicht einmal Abschied von ihnen hatte nehmen können, obwohl es noch so viel zu sagen, zu klären gegeben hätte. Von seinen Frauen, auch von seiner deutschen Freundin mit dem französischen Namen Claire, Claire aus Osnabrück, zu der er schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Er versicherte Edda,
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