Blackout
und immer wieder ist sie ins Krankenhaus gegangen, diese Spritzen in die Hüfte, so dicke Nadeln, und kein einziges Wort der Klage, nicht ein einziges.« Ihre Hände zitterten, und als sie weitersprach, brach ihre Stimme. »Wir hatten drei Kinder. Eines haben wir noch. Wir sind gesegnet.« Sie presste ihr Gesicht gegen das ihrer Tochter und drückte ihr fest die Schultern. Jennifers Gesichtsausdruck erinnerte mich an ein Foto, das ich einmal gesehen hatte: Ein mehr schlecht als recht zusammengezimmertes Floß, das auf dem Weg nach Florida in seine Einzelteile zerfallen war, und mitten zwischen den Wrackteilen ein kubanisches Mädchen, das sich an einen Autoreifen klammerte – sie war die einzige Überlebende, schien aber nicht sicher, ob sie das überhaupt sein wollte.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mir Kaseys Zimmer mal ansehe?«, fragte ich.
Mr. Broach, der sich um seine weinende Frau kümmerte, machte eine zustimmende Handbewegung.
Kaseys Möbel waren schon abgebaut worden, und ungefähr die Hälfte ihrer Besitztümer war bereits in Kisten verpackt, obwohl man beim Packen kein erkennbares System zu haben schien. Ein Bild von Kasey und ihrem dünnen, kahlköpfigen Bruder klebte an der Innenseite ihrer Schranktür, so dass sie es jeden Morgen sehen musste, wenn sie sich anzog. Ihre Matratze stand an der gegenüberliegenden Wand, das Kopfteil des Bettes und der Lattenrost waren dagegengelehnt. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie sich Morton Frankel im Dunkeln anschlich, mit seiner Sevofluran-Flasche und einer Gesichtsmaske. Kaseys kurzer, panischer Kampf, bevor das Gas zu wirken begann. Der Volvo, den er draußen geparkt haben konnte, wo jetzt der Umzugswagen stand. Ich trat ans Fenster und schob die Jalousie auseinander, so dass ich Parkplätze sehen konnte, die wie bei einem Motel direkt vor den Eingängen lagen. Fünf Schritte durch die Dunkelheit, und schon hatte er ihren bewusstlosen Körper in seinem Kofferraum. Es wäre einfach gewesen, alles so zu timen, dass keiner etwas bemerkte.
Auf dem Fensterbrett lag ein faustgroßer Haufen Schlüsselanhänger auf einem kleinen Monatskalender. Ich blätterte ihn durch. Er war unbenutzt. Schätzungsweise hatte sie ihn gekauft, weil ihr die weichgezeichneten Fotos von spielenden Wildtieren so gut gefallen hatten. Zwischen all den Anhängern und Glücksbringern hingen nur drei Schlüssel – Auto, Wohnung, Postkasten.
Ein silberner Fingerhut, der ebenfalls am Schlüsselring befestigt war, fesselte meine Aufmerksamkeit.
Ich zerrte ihn vom Schlüsselring herunter, so dass die anderen Glücksbringer wild hin und her baumelten.
Mit so einem Schlüsselanhänger erinnern sich trockene Alkoholiker daran, dass sogar ein Fingerhut voll Alkohol schon ein Fehltritt ist.
In ihrem winzigen Badezimmer war bereits alles eingepackt worden. Ich fand eine Schachtel mit Medikamenten und durchsuchte sie kurz, aber mehr als Naproxen, Paracetamol und mehrere Mittel gegen Sodbrennen war nicht zu finden.
Kein Benzodiazepin.
Ein trockener Alkoholiker hatte für gewöhnlich kein Interesse daran, mit Benzos herumzuspielen. Aber die Autopsie hatte ergeben, dass Kasey Benzodiazepin im Körper gehabt hatte.
Ich ging wieder hinaus. Die Broachs taten ihr Bestes, um wieder ihren Rhythmus beim Packen zu finden, aber unsere Unterhaltung hatte sie aus dem Takt gebracht.
»War Kasey trockene Alkoholikerin?«, fragte ich.
Mrs. Broach wurde rot – ich hatte nicht gerade das Lieblingsthema erwischt. »Tja. Wie gesagt, sie hatte als Teenager gewisse Probleme, kurz nach Jennifers Geburt. Wir haben uns um Hilfe gekümmert.«
»Ist sie jemals rückfällig geworden?«
»Wir hatten vor kurzem erst mit einem Kuchen das zwanzigjährige Jubiläum gefeiert.«
»Glauben Sie, dass sie jemals Benzodiazepin genommen hätte?«
»Völlig ausgeschlossen. Sie wollte ja nicht mal meine Schwarzwälder Kirschtorte anrühren, obwohl der Alkohol des Kirschwassers doch völlig verfliegt.«
In der Küche ließ Mr. Broach eine Kaffeemaschine fallen, und die Glaskanne zerbrach. Verständnislos starrte er auf die Scherben hinunter.
Drei Sekunden vergingen, dann sagte seine Frau: »Hätten wir dafür denn irgendeine Verwendung gehabt?«
»Ich habe Sie bei Ihrer Arbeit aufgehalten«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn ich Ihnen ein bisschen helfe?«
»Gern«, antwortete Mr. Broach.
Ich half ihnen eine Stunde beim Packen und Schleppen, während das Brausen des Verkehrs langsam abnahm und die
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