Blackout
Nachricht, die mir Geneviève in der Nacht ihres Todes hinterlassen hatte, noch einmal abgespielt, diesmal von Katherine Harrimans Laptop.
Respektvolle Stille für die Stimme der Toten. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt mit jemand anderem zusammen bin. Ich hoffe, ich tue dir weh damit. Ich hoffe, dass du unter diesem Schmerz leidest. Ich hoffe, du fühlst dich so richtig einsam. Adieu.«
Natürlich war Geneviève mit niemand anderem zusammen gewesen, zumindest hatte sie ihren Freunden oder ihrer Familie nichts in dieser Richtung erzählt. Ihr ungeschickter Manipulationsversuch traf mich in diesem Moment nicht sonderlich, obwohl die Staatsanwaltschaft behauptete, dass er mich am dreiundzwanzigsten September durchaus getroffen hatte. Die Verteidigung stellte rein privat fest, dass diese Nachricht Geneviève unsympathischer dastehen ließ, und öffentlich, dass diese Nachricht das Fass zum Überlaufen gebracht hatte und der entstandene Druck in meinem Kopf meinem Gangliogliom seine fatale Wirkung entfalten ließ. Im Hinblick auf meine fehlende kriminelle Vergangenheit, so argumentierte Donny, war der Tumor die einzig logische Erklärung für mein Verhalten.
Am fünften Tag der Verhandlung, an dem noch von meiner Zurechnungsfähigkeit ausgegangen wurde, trat endlich Genevièves Familie in Erscheinung, was dann doch durch die Hornhaut drang, die ich entwickelt zu haben geglaubt hatte. Ihre Mutter, langgliedrig und großbrüstig, hatte ihren Hermes-Schal wie ein Requisit über ihre breiten Schultern drapiert und ihren gepflegten Gatten Luc im maßgeschneiderten Anzug untergehakt. Obwohl sie mit ihrer charakteristischen Eleganz auftraten, sah man diese gewisse Aushöhlung an ihren Wangen, eine kaum wahrnehmbare Erosion in ihrer Haltung, die ihren vernichtenden Verlust verrieten. An Lucs anderer Seite schritt Adeline, deren Gesicht so gerötet war, dass man ihre Sommersprossen nicht mehr sah. Obwohl sie mich voller Hass anstarrten, zerbröckelte mein kleines bisschen Distanz, das ich mir zum Selbstschutz aufgebaut hatte, denn sie waren so sichtlich zerstört, und Lucs Hand zitterte stark, als er beim Hinsetzen das Holz seines Stuhls berührte. Ihr Erscheinen, geschickt direkt vor meinen Auftritt im Zeugenstand gelegt, hatte genau den Effekt auf mich, den sich Harriman gewünscht hatte. Meine Kehle war wie zugeschnürt, meine Lippen zuckten, ich lehnte mich nach vorne gegen den Tisch und bedeckte mein Gesicht mit den Handflächen und rang mühsam um Fassung. Meine Reaktion wurde von den Geschworenen wahrscheinlich als Scham aufgefasst, aber es war etwas viel Schlimmeres. Hiermit war der Verlust von Geneviève endgültig – der Frau, die ich vielleicht nicht auf die klügste Art geliebt hatte, aber eben doch geliebt.
Donnie bat um eine Pause, damit ich mich für meinen Auftritt sammeln konnte, aber der Richter lehnte den Antrag ab. Mein Herz klopfte immer noch wie wild, als ich die drei kleinen Stufen in den Zeugenstand hinaufschritt und meine rechte Hand hob. Dabei konnte ich zum ersten Mal die Gesichter auf der Galerie sehen, ohne verstohlen über die Schulter gucken zu müssen. Alles hatte eine überhöhte Intensität, aber auch eine apologetische Gewöhnlichkeit. Die Reporter in ihren guten Anzügen, die Kameramänner mit ihrer Digitalausrüstung, der Gerichtsstenograph, der zu verbergen versuchte, dass er Kaugummi kaute.
Donnie befragte mich sanft und mit großem Einfühlungsvermögen. Als Harriman an der Reihe war, kam sie ganz entspannt auf mich zu. Sie hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand wie ein Gesangbuch. Da sie den Schutzumschlag entfernt hatte, wusste ich nicht, was mich erwartete, bis sie anfing zu lesen: »Wir alle haben eine Exfreundin, die wir am liebsten umbringen würden. Wenn wir Glück haben, sind es zwei oder drei.«
Sie ließ das Buch zuklappen wie die Kiefer einer Schnappschildkröte, so dass die Geschworenen auf ihren Stühlen zusammenfuhren. »Glauben Sie das wirklich?«
»Nein«, sagte ich.
»Sie haben das geschrieben, stimmt’s?«
Ich bestätigte, dass dem so war.
»Sie wollen also nicht, dass wir glauben, was Sie schreiben?«
»Natürlich nicht«, erwiderte ich. Terry fing meinen Blick auf und machte eine beschwichtigende Geste mit den Handflächen, also fuhr ich in etwas liebenswürdigerem Ton fort: »Das sagt der Protagonist, Derek Chainer. Ein Autor billigt nicht unbedingt die Standpunkte, die seine Charaktere vertreten. Ich schaffe Figuren, die nicht ich sind,
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