Blackout
jeden Cent zweimal umdrehen. Mir wäre es ja egal, mein Gott, es ist nur Geld, aber sie macht sich Sorgen. Und ich … ich möchte einfach nur, dass sie diese neue Brücke bekommt, Drew. Mehr will ich gar nicht. Diese Frau verdient es. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt. Zweiundvierzig Jahre. Neunzehn, als sie mich heiratete. Man könnte meinen, dreiundzwanzig Jahre wären eine lange Zeit, aber es fühlt sich an, als …« Er stieß zischend die Luft durch die Zähne, als wollte er eine Katze verscheuchen. »Aber ich schweife ab. Ich schweife ab.«
Mit zitternder Hand goss er sich noch einen Rum ein, steckte die leere Flasche kopfüber in eine der Abfalltüten und gab dann noch einen Schuss Cola in sein Glas. Er pickte mit dem Finger ein paar Krümel vom Tisch auf und legte sie auf eine liegengebliebene Serviette. Warum? Warum war das noch wichtig? Warum war ihm überhaupt noch irgendetwas wichtig? Aufstehen, wenn der Wecker piept. Kleider raussuchen. Volltanken. Das ganze profane Geschäft des Lebens. Und dennoch machte er weiter, er und auch Janice, sie sahen einem niederschmetternden Tag nach dem anderen ins Gesicht und hielten durch. Was für eine Wahl hatte er schon? Was für eine Wahl hatte sie?
Er merkte, dass ich ihn beobachtete, und knüllte nervös die Serviette zusammen, als hätte man ihn bei etwas Peinlichem erwischt. Ich wollte ihm sagen, dass es okay war, dass er so viele Krümel aufpicken konnte, wie er lustig war. Von diesen Krümeln, die jemand hier hinterlassen hatte wie diesen geisterhaften Fußabdruck in der Birkenstock-Sandale.
Es gibt ein gewisses Alter, da begreift man, dass man tatsächlich altert. Dass man die beiden Loopings hinter sich hat, danach kommt nur noch die Spirale, und dann muss man auch schon aussteigen aus der aufregenden Achterbahn. Die Fahrt dauert nicht ewig. Aber es gibt ganz klar diesen einen Moment, in dem einen diese kalte Tatsache voll in den Magen trifft. Diesen einen Moment hatte ich in dem Sommer, als ich dreiunddreißig war, an einem Sonntagabend nach dem soundsovielten vertanen Wochenende. Ich war so alt wie Jesus und hatte im Vergleich zu ihm in meinem Leben relativ wenig zustande gebracht. Durch den Wasserdampfnebel meiner heißen Dusche starrte ich mein Spiegelbild an und bemerkte auf einmal ein Netz feiner Fältchen unter jedem Auge. Ich setzte mich auf den Badewannenrand, und mein Kopf dröhnte nicht nur vom Besäufnis der letzten Nacht, sondern auch vom zermalmenden Gewicht des Unübersehbaren. Die Realität war die ganze Zeit da gewesen, aber ich hatte meine Augen abgewandt, mich ausgeklinkt und in eine abstumpfende Stille hineingetrunken.
Jetzt ist der richtige Moment für das schmerzliche Bekenntnis, obwohl meines ebenso banal ist wie die Krümel, die ich weiter oben für diesen großen literarischen Effekt bemüht habe. Nach dem dritten Schlaganfall meiner Mutter, als sie schon am Rande der Klippe entlangtaumelte, geistig verwirrt und mit einem Gesicht, das aussah, als hätte sie zwei Jahrzehnte übersprungen, bedachte mich die Krankenschwester mit diesem finalen, feierlichen Nicken:
Jetzt ist es so weit, Drew.
Und da erstarrte ich vor dem Krankenzimmer. Ich konnte nicht hineingehen. Der Gedanke machte mir ganz plötzlich massive Angst. Wahrscheinlich hätte sie mich sowieso nicht mehr erkannt – das hatte sie schon seit Wochen nicht mehr –, aber das war nur ein dürftiger Trost. Mein Vater, Gott segne ihn dafür, hat mich deswegen nie verurteilt. In den anderthalb Jahren, die er dann noch lebte, sah ich nicht einmal einen Anflug von Missbilligung in seinen Augen. An jenem Tag gab er mir vor dem Sterbezimmer meiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und ließ mich auf dem Flur stehen. Ich umklammerte die silberne Türklinke, als könnte ich mich jeden Moment doch noch zusammenreißen und hineingehen, obwohl ich genau wusste, dass das nicht passieren würde. Meine Scham war unbeschreiblich. Ich drückte meinen Kopf gegen die Tür und hörte, wie das unregelmäßige Piepen des Monitors zu guter Letzt in einen einzigen flachen Ton überging.
»Lloyd«, sagte ich, »es tut mir so verdammt leid, was ihr zwei hier durchmachen müsst.«
Er nickte schnell zum Dank, ein kleines unbehagliches Zucken, dann nippte er wieder an seinem Drink. »Als ich klein war, dachte ich immer, ich würde mich damit schon irgendwann aussöhnen können. Vielleicht habe ich deshalb … mein Job, verstehst du? Aber als dann das mit Janice kam – na ja, ich hab mich eben doch
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