Blankes Entsetzen
würdest du bitte den Mund halten.« Tony schlug die Motorhaube zu. Seine Wangen waren gerötet. »Wenn du helfen willst, behalt es einfach für dich und sprich nicht darüber. Gott weiß, dass ich diese ganze verdammte Geschichte schon mehr als einmal bereut habe.«
Sandra starrte ihn an. »Doch wohl nicht, dass du Irina hast?«
»Unsinn. Natürlich nicht. Wenn du mal für eine Sekunde den Mund halten und mir zuhören würdest.« Sein Blick war verzweifelt. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Er drehte sich um und schlug mit beiden Händen aufs Autodach. »Ich frage mich allmählich, ob ich ihnen von Irina erzählen soll. Schließlich ist es besser, wegen illegaler Adoption verknackt zu werden als wegen Mordes.«
Sprachlos starrte seine Schwiegermutter seinen Rücken an. In der Stille spürte Tony ihren Blick und drehte sich um, Entsetzen in seinen Augen.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich Joanne das angetan habe?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Sandra. »Das ist es nicht.« Sie glaubte tatsächlich nicht, dass er es getan hatte – nicht das. »Aber ist dir denn nicht klar, dass sie dir Irina wegnehmen, wenn du ihnen die Wahrheit sagst?«
»Natürlich ist mir das klar«, sagte Tony.
»Und es ist dir egal?«, fragte Sandra ungläubig.
»Ist kein großer Unterschied für mich, oder?«, antwortete er. »Wenn ich für den Mord an meiner Frau lebenslänglich bekomme.«
Die Seitentür öffnete sich wieder, und Karen Dean steckte den Kopf herein.
»Pasta ist fertig«, rief sie ihnen zu. »Sobald Sie so weit sind.«
72.
Am Donnerstagmorgen fuhr Helen schon früh nach Theydon Bois, in der Hoffnung, noch einmal mit Keenan sprechen zu können.
Er kam kaum zehn Minuten nach ihr an, in der Hand eine Tüte mit einem Marmeladen-Donut und einem Cappuccino.
»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen«, sagte er, als sie gemeinsam die Treppe hinaufstiegen, »hätte ich von jedem zwei geholt.«
»Tut mir Leid, dass ich Sie so überfalle«, sagte Helen.
»Sie überfallen mich nicht«, antwortete Keenan.
Sie wartete, bis sie in seinem Büro waren, und betrachtete die gerahmten Fotos einer dunkelhaarigen Frau – seiner Frau, nahm sie an – und dreier Kinder in unterschiedlichem Alter, von denen keins dem hageren, erschöpft wirkenden Inspector ähnelte. Er stellte derweil sein Frühstück auf dem Schreibtisch ab und hängte seinen Mantel auf.
»Ihre Familie?« Überraschenderweise verspürte sie einen Anflug von Neid.
Keenan nickte und sagte lächelnd: »Ich fürchte, ich bin nicht Gentleman genug, Ihnen meinen Cappuccino anzubieten, aber ich hole Ihnen gerne eine Tasse von dem Zeug aus der Maschine, wenn Sie möchten.«
»Danke, ich passe.«
Keenan hob den Plastikdeckel von seinem Becher ab, trank einen Schluck und wischte sich die Schaumspur von der Oberlippe. »Sie haben die Berichte verglichen?«
»Habe ich.« Kurz und systematisch trug sie ihm ihre Analyse vor.
Keenan hörte ihr aufmerksam zu, bis sie geendet hatte, dann presste er kurz die Lippen zusammen und sagte: »Ich glaube … ich hoffe, ich bin ein aufgeschlossener Cop, Inspector Shipley, aber …«
»Helen«, sagte sie. »Aber?«
»Aber in meinem Fall deutet bisher immer noch alles auf Patston.«
»Obwohl es weder im Wohnhaus noch in der Werkstatt Spuren von Gewalt gab, und obwohl der Tatort kilometerweit entfernt liegt? Obwohl Joanne tatsächlich das Haus verlassen hatte – genau wie er sagt? Obwohl sie Irina bei ihrer Großmutter gelassen hat – genau wie er sagt?«
»Das heißt nicht, dass Patston sie später nicht mehr gesehen hat«, sagte Keenan. »Sie kann in der Werkstatt vorbeigefahren sein oder sich mit ihm zum Mittagessen getroffen haben. Sie hatte ihren Pass dabei – vielleicht sagte er, er würde ihnen beiden einen Urlaub buchen.«
»Das sind Spekulationen.«
»Ich weiß«, sagte Keenan.
Eins der Telefone auf seinem Schreibtisch klingelte. Er hob ab, hörte einige Sekunden lang zu, kritzelte ein paar Notizen auf einen Block, dankte der Person am anderen Ende und legte auf.
»Joannes Hausarzt hat ihr vor einigen Monaten Valium verschrieben«, erzählte er Helen. »Und da jetzt keine Tabletten im Haus sind, hat Joanne sie entweder vor einiger Zeit aufgebraucht oder weggeworfen, oder Patston hat sie ihr morgens in den Kaffee gerührt.« Er senkte den Blick auf seine Notizen. »Wir haben eine Bibliothekarin und eine andere Frau aus der Bücherei in South Chingford, die sich daran erinnern, dass Joanne vor ein paar
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