Blankes Entsetzen
Gewaltverbrechen ein paar Hoffnungen zerschlagen haben. Ansonsten gab es zwischen den beiden Morden mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten. Joanne Patston war mit Tranquilizern voll gepumpt gewesen, doch die toxikologische Untersuchung von Lynne Bolsovers Leiche hatte keinerlei Hinweise auf Medikamenteneinnahme ergeben. Lynnes Körper hatte Spuren früherer Misshandlungen aufgewiesen, bei Joanne Patston gab es keine solchen Anzeichen. Falls der mit Stoff umwickelte Stein, den die kleine Kylie Bolsover in der Garage gefunden hatte, tatsächlich dort platziert worden war – möglicherweise vom Mörder –, so hatte man Tony Patston bisher noch nicht denselben Schlag verpasst.
»Okay«, murmelte Helen ein paar Minuten später.
Eine bemerkenswerte Ähnlichkeit gab es doch.
Stephanie Patel hatte festgestellt, dass schon der erste Schlag, den man Lynne Bolsover zugefügt hatte, ausgereicht hätte, um sie zu töten – und Dr. Collins zufolge hatte auch bereits die erste Stichwunde Joanne Patstons Leben beendet. Dennoch hatte der Mörder in beiden Fällen nicht aufgehört: zwei weitere Schläge im ersten Fall, drei weitere Stiche im zweiten.
Nicht direkt ein Muster, aber immerhin etwas.
Sie machte sich eine Notiz; dann dachte sie über die anderen, schwächeren Parallelen zwischen den Fällen nach. Da waren natürlich die Ehemänner: Beide waren offenbar gewalttätig, wobei Patstons Aggression sich anscheinend eher gegen das Kind als gegen seine Frau richtete. Keiner der beiden Morde enthielt ein offensichtliches sexuelles Element.
Sie wandte sich dem Bericht der Spurensicherung zu und fand ein weiteres, möglicherweise bedeutendes Detail vom Tatort des Patston-Mordes, das mit ihrer Erinnerung an ältere Fälle übereinstimmte. Beide Leichen waren nur notdürftig versteckt worden.
»Was bedeutet?«, murmelte sie und trank ihre Cola aus.
Wollte der Mörder der Frauen, dass die Leichen gefunden wurden? Oder war er aus irgendeinem Grund unfähig gewesen, die Leichen anständig zu vergraben?
Aber vielleicht war auch das nur ein weiterer Zufall. Vielleicht waren beide Mörder nur nervös gewesen, aus Furcht, dass Passanten vorbeikamen.
Ansonsten sah sie keine Parallelen.
Außer natürlich Allbeury und Novak.
71.
Während sie zahllose Tassen Tee trank, sich um Irina kümmerte und mit Karen Dean redete – was ihr im Augenblick leichter fiel als mit ihrem Schwiegersohn oder den wohlmeinenden Freunden, die sie anriefen –, fragte sich Sandra, warum Tony sich so entschieden dagegen sperrte, über Irinas Adoption zu sprechen, wo er doch anfangs so stolz darauf gewesen war.
Diese Frage schlich sich immer wieder in ihre Gedanken. Sie grübelte ständig darüber nach, wenn auch vielleicht nur, um sich von Joanne abzulenken – denn nicht an sie zu denken war der einzige Weg, nicht verrückt zu werden und weiterzumachen, Irina zuliebe.
Und dann, ganz plötzlich, wusste Sandra warum, und als sie es einmal erkannt hatte, fragte sie sich, wie es ihr die ganze Zeit hatte entgehen können.
Anfangs, als Tony und Joanne versucht hatten, ein Kind zu adoptieren, war es ihnen nicht gelungen, das System in ihrem Sinne arbeiten zu lassen. Dann aber, wie aus dem Nichts, hatten sie plötzlich einen Weg gefunden, und nur wenige Monate später war Irina bei ihnen gewesen.
Sandra wartete, bis ihre Enkelin schlief und Dean in die Küche gegangen war, um zum Abendessen Spaghetti zu kochen, dann suchte sie Tony.
Er war in der Garage und werkelte unter der Motorhaube seines Autos.
»Essen fertig?«, fragte er, als er sie durch die Seitentür hereinkommen sah.
»Gleich.« Sandra schloss die Tür hinter sich, atmete tief durch und kam direkt zur Sache. »Tony, ich weiß jetzt, warum du wegen der Polizei so komisch warst und warum du nicht über die Adoption sprechen oder dich ans Fernsehen wenden willst.«
Er richtete sich auf, sein Gesicht eine Maske. »Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Sie war nicht legal, stimmt’s?« Ihre Stimme war gedämpft. »Irinas Adoption.«
»Sandra …«
»Ich wünschte, du und Joanne hättet es mir erzählt«, sagte sie. »Ich hätte es verstanden. Wie konntet ihr bloß denken, dass ich euch nicht verstehen würde? Ich hätte euch geholfen, hätte alles getan …«
»Um Himmels willen«, zischte Tony und schnitt ihr das Wort ab, »sprich leise.«
»Keine Sorge«, sagte Sandra. »Karen kocht, und Irina schläft. Du kannst mir vertrauen, Tony. Ich würde nie etwas tun, das …«
»Verdammt, Sandra,
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