Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
Vom Netzwerk:
wenn sie in einen Spiegel schaute. Als man Joanne gefunden hatte, war Sandra sicher gewesen, dass es nichts mehr gab, das sie fürchten musste, doch jetzt, wo sie die Wahrheit über die Adoption erfahren hatte – wo auch die Polizei davon wusste –, kannte auch sie die endlose Furcht, die ihre arme Tochter ausgestanden hatte: Tagaus, tagein musste sie Angst gehabt haben, Irina zu verlieren. Nun war auch Sandra in einen permanenten Zustand der Angst verfallen.
    Angst davor, die Türklingel zu hören.
    Angst vor diesem Augenblick.
    Sie hörte Stimmen an der Tür. Hörte, wie Karen Dean zurück ins Wohnzimmer ging und etwas zu Tony sagte.
    Dann hörte sie ihn schreien.
    Sandra zitterte, als sie die Küchentür öffnete.
    Der Flur schien voller Fremder zu stehen, zwei Frauen und ein Mann. Auch Inspector Keenan war da, im Hintergrund, und Constable Dean kam aus dem Wohnzimmer …
    Dann hörte sie wieder einen Schrei.
    Diesmal Irinas Schrei. Schrill, gellend.
    »Sandra, es tut mir Leid.« Dean kam mit gequältem Gesicht auf sie zu.
    »Was ist denn?« Sandra drängte sich an ihr vorbei und sah, dass eine Frau mit orangefarbenem Haar Irina auf den Arm genommen hatte und sie festhielt. »Was tun Sie da?«
    »Lass es, Sandra.« Tony stand hinter der Frau. In einer Hand hielt er ein Blatt Papier, und sein Gesicht war bleich. Er stand nur da, tat nichts, stand einfach nur da und sah zu, wie man ihm seine Tochter wegnahm.
    »Sie müssen Irina mitnehmen«, sagte Dean und berührte vorsichtig Sandras Arm.
    »Nein!« Sandra rannte nach vorne, mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, und versuchte, nach Irina zu greifen, doch die orangehaarige Frau wich zur Seite aus, und Sandras Hände erwischten nur den Ärmel ihres Mantels. »Geben Sie sie mir!«
    »Sie können nichts tun, Sandra.« Deans Augen wurden feucht.
    »Geben Sie mir das Mädchen!«, schrie Sandra.
    Sie sah, wie Irina sie aus riesigen, angsterfüllten Augen anstarrte, doch in diesem kurzen Augenblick weinte sie nicht, riss nur den Mund auf vor Angst und Unverständnis. Dann drehte sich die Frau um, die sie auf dem Arm hielt, und ging aus der Tür. Irina begann wieder zu weinen.
    »Nein!«, schrie Sandra ihr nach, krallte beide Hände ins Haar und zerrte in verzweifelter Hilflosigkeit daran. »Das dürfen sie nicht! Sag ihnen, sie dürfen das nicht!«
    »Sie dürfen«, sagte Tony leise.
    Die anderen Fremden folgten ihrer Kollegin. Ihre Gesichter waren völlig ausdruckslos, ohne die geringste Gefühlsregung, weder für das schreiende Kind noch für die verstörte alte Frau, die bereits ihre Tochter verloren hatte und in diesem Augenblick auch noch ihre Enkelin verlor.
    Sandra starrte ihnen hinterher. Dann richtete sie den Blick auf diejenigen, die geblieben waren. Keenan, dessen dünnes Gesicht todunglücklich aussah, und Karen Dean, die mit zusammengepressten Lippen versuchte, ihrem Blick auszuweichen.
    Und Tony, der immer noch dastand wie ein Holzklotz.
    »Du Mistkerl!« Sie warf sich auf ihn, schlug mit den Fäusten auf ihn ein und weinte laut, während sie ihn schlug – und er blieb weiter reglos stehen. Er sah sie nicht einmal an, starrte nur an ihr vorbei in die Ferne. »Du mieser, egoistischer Mistkerl!«
    »Mrs Finch«, sagte Keenan sanft. »Wollen wir nicht …«
    »Wie konntest du zulassen, dass sie Irina mitnehmen?« Sandra kratzte ihren Schwiegersohn mit den Fingernägeln der rechten Hand an der Wange, und ein wenig Blut quoll hervor. »Wie konntest du das tun?«
    »Ich habe nichts getan«, sagte Tony schließlich, immer noch, ohne sich zu rühren. »So ist das Gesetz«, sagte er leise. »Wir wussten, dass es so kommt.«
    Karen Dean stellte sich hinter Sandra und legte der älteren Frau die Hände auf die Arme, um sie zurückzuhalten, aber das war nicht mehr nötig. Alle Kraft, jeder Kampfgeist waren aus Sandra gewichen. Ihre Arme fielen schlaff zur Seite und hingen leblos herunter.
    Tony, der nach seinem Geständnis am Samstag verhaftet und auf Kaution freigelassen worden war, blickte nicht länger an Sandra vorbei in die Ferne.
    Er sah Keenan an …
    … der jetzt vortrat, um mit Tony zu sprechen.
    »Anthony Patston, ich bin …«
    Sandra vernahm zwar die tiefe, gleichmäßige Stimme des Inspectors, aber falls sie die Worte hörte, die er sprach, während das bleiche, blutende Gesicht ihres Schwiegersohns noch weißer und kränker wurde, war sie unfähig, den Sinn dieser Worte zu erfassen.
    Sie hörte nur noch die Schreie Irinas, als das

Weitere Kostenlose Bücher