Blankes Entsetzen
Mutter bist.
Nicht ihre richtige Mutter.
Aber richtig genug, widersprach sie der Stimme in ihrem Kopf mit Nachdruck. Richtig genug, um sie zu lieben, sie leidenschaftlich, verzweifelt zu lieben.
Genug für beide Eltern.
Aber es war doch nicht genug. Ein viel zu großer Teil der Entwicklung Irinas im Alter zwischen ein und drei Jahren war von Spannungen, Angst und Schmerz geprägt gewesen. Joanne wusste das und fühlte mit ihr, doch ihre eigene Hilflosigkeit und Überforderung wuchsen, während sie beobachtete, wie Irina auf gewisse Weise zu dem zurückkehrte, was sie gewesen war – damals, als sie zu ihnen kam.
Kurz nach ihrem zweiten Geburtstag hörte sie auf zu weinen.
»He, Mann«, sagte Tony nach ungefähr drei friedlichen Abenden. »Das ist ja toll.«
»Ja«, sagte Joanne leise.
»Wird auch verdammt noch mal Zeit«, fügte er hinzu.
Joanne antwortete nicht. Die Stille machte sie krank, weil sie wusste, was dazu geführt hatte. Wie ein Tier, das sich irgendwann der Peitsche unterwirft, hatte Irina, das kämpferische kleine Mädchen von einst, schließlich gelernt, dass es besser war – und viel weniger schmerzhaft –, nicht zu weinen.
»Sie hat einen guten, starken Charakter«, hatte Dr. Mellor gesagt.
Bei der Erinnerung daran fragte Joanne sich mit einem Schauder, was die Kinderärztin jetzt wohl sagen würde.
Doch der Frieden hielt nicht an. Irinas Introvertiertheit und mangelnde Ansprechbarkeit begannen Tony fast genauso sehr zu ärgern wie ihr Weinen.
»Alles, worum ich gebeten hatte, war ein liebevolles Kind«, sagte er zu Joanne.
»Sie ist ein liebevolles Kind«, sagte Joanne ängstlich.
»Zu dir, nicht zu mir.«
»Vielleicht, wenn du …« Sie verstummte.
»Was?«
»Nichts«, sagte sie leise. »Ich weiß, du gibst dir Mühe.«
»Verdammt richtig, ich gebe mir Mühe«, sagte Tony. »Ich schwitze Blut und Wasser für sie – und was bekomme ich dafür? Ein undankbares Kind, das mich hasst.«
»Sie hasst dich nicht«, widersprach Joanne. »Du wolltest, dass sie still ist, und den Wunsch erfüllt sie dir jetzt.«
Und Tony ging wie üblich in den Pub.
13.
Jacks Neigung zu stolpern war schon im Alter von zwei Jahren so ausgeprägt gewesen, dass Lizzie Dr. Anna Mellor bei der jährlichen Routineuntersuchung darauf ansprach. Die Kinderärztin – die mit Peter Szell, einem Kardiologen und engen Freund Christophers verheiratet war – beruhigte sie jedoch, nachdem sie den Jungen untersucht hatte. Bei Geh-Anfängern, erklärte sie, sei häufiges Hinfallen völlig normal.
Lizzie verbannte das Thema aus ihren Gedanken, und wenn ihr das auch nicht ganz gelang, stellte sie das Thema doch zumindest weit hintan.
»Er ist entzückend«, sagte seine Großmutter Angela und hatte Recht: Jack mit seinen schönen grauen Augen, dem goldblonden Haar und seiner fröhlichen Art war hinreißend.
Auch Edward vergötterte seinen kleinen Bruder, neckte ihn aber häufig, als sie heranwuchsen.
»Du bist so langsam«, beschwerte er sich, wenn sie zusammen spielten.
»Er ist noch klein«, erinnerte Christopher ihn. »Du musst Geduld haben.«
»Hab ich ja«, sagte Edward. »Aber er ist so ungeschickt.«
»Es können nicht alle von Natur aus solche Athleten sein wie du, Ed.«
»Was ist ein Athlet, Dad?«
»Jemand, der Rennen läuft, Hochsprung macht und so weiter.«
»Jack kann nicht springen«, sagte Edward.
»Natürlich kann er das«, widersprach Christopher.
Als dann Sophie zur Welt kam, jubelte der dreijährige Jack über die Aussicht, ebenfalls großer Bruder sein zu können; er schmuste bei jeder Gelegenheit mit der kleinen Schwester; er liebte es zuzusehen, wenn sie gebadet und umgezogen wurde, und er streichelte hingebungsvoll ihre weichen Wangen.
Ein zärtlicher Junge.
Ein fröhlicher, neugieriger, liebevoller Junge.
»Ich glaube nicht, dass ich je ein so unkompliziertes Kind gesehen habe«, sagte Gilly.
»Ich weiß«, stimmte Lizzie zu. »Wir haben großes Glück.«
Doch dann, an einem Februarmorgen drei Monate nach Jacks viertem Geburtstag, änderte sich binnen weniger Stunden alles, und für immer. Christine Connor, die Leiterin von Jacks Kindergarten, fragte Lizzie, die gerade ihren Sohn gebracht hatte, ob sie sie kurz unter vier Augen sprechen könne.
»Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Jack«, sagte sie.
»Warum?«
Lizzie stellte die Frage leichthin – wie die Frau, die sie bis zu diesem Augenblick zu sein vorgegeben hatte: die glückliche, sorglose Ehefrau und Mutter von
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