Blankes Entsetzen
Lizzie begriff, dass es Christopher – einem Mann, der gewohnt war, durch Haut und Knochen zu schneiden und seine Hände in das Blut anderer Menschen zu tauchen – in diesem Augenblick kein bisschen anders erging als ihr selbst.
Er klammerte sich mit aller Kraft an die Unwissenheit.
Die Zeit danach verschwamm zu einem Nebel – etliche Tage am Telefon in der Londoner Wohnung, die Bemühungen, Jack zu beschäftigen und zu beruhigen, endlose Arzt- und Krankenhaus-Wartezimmer mit veralteten Zeitschriften und voller Patienten und Angehörigen mit guten Manieren und erbärmlichem Aussehen. Untersuchungszimmer und Röntgenabteilungen und Labors, durch die der arme Jack, der sich niemals beklagte, geschoben und geschubst wurde und in denen er vor einer endlosen Aufeinanderfolge von Männern und Frauen in Anzügen und weißen Kitteln laufen, sich hinsetzen und wieder aufstehen musste – vorgeführt wurde, wie Lizzie es in ohnmächtiger Wut empfand. Sie gingen zu einem Kinder-Neurologen, einem Orthopädie-Chefarzt und einem Genetiker; man stellte Lizzie und Christopher zahllose Fragen und beantwortete die ihren; man präsentierte ihnen Dutzende von Fakten, Statistiken und Ratschlägen.
Und irgendwann inmitten dieses Nebels kam die Diag-nose, verkündet wie das Urteil, auf das Lizzie wartete, seit Christine Connor sie in ihr Büro gebeten hatte.
Duchenne Muskeldystrophie aufgrund eines fehlerhaftes Gens des X-Chromosoms. Dem weiblichen Chromosom.
Mit anderen Worten, seine Mutter hatte es ihm vererbt.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Lizzie viel später an diesem letzten, endlosen Tag-Nacht-Albtraum zu Hause in Marlow. »Wie kann das sein? Es gibt doch in der Familie keine Vorgeschichte solcher Krankheiten, oder?«
Die Frage galt ihrer Mutter, die aus London gekommen war, um Gilly mit Edward und Sophie zu helfen.
»Nicht, soweit ich weiß«, sagte Angela, die sich nicht ganz zu Unrecht angegriffen fühlte.
Alle drei Kinder waren oben und schliefen – Jack aus purer Erschöpfung –, und Gilly war vor einer Weile in ihre Wohnung in Maidenhead gefahren. Die anderen Erwachsenen saßen erschöpft im Wohnzimmer vor dem Holzfeuer, das knisterte und glühte wie gewöhnlich, aber so gar nichts von der üblichen Wärme und Behaglichkeit auszustrahlen schien.
»Was ist mit deinem Bruder?«, fragte Lizzie.
Solange sie denken konnte, wusste sie schon, dass es einen Onkel namens James gegeben hatte, der sehr jung verstorben war. Angela hatte Lizzie bereits vor Jahren erzählt, dass sie nie genau erfahren hatte, woran ihr Bruder gestorben war; ihre Eltern, die inzwischen ebenfalls beide tot waren, hatten nie mit ihr darüber sprechen wollen.
»Könnte es das gewesen sein?«, drängte Lizzie.
»Ich weiß es nicht.« Angelas Gesicht war blass. »Möglich ist es, nehme ich an.«
»Finde es heraus, ja?« Lizzie wusste, dass sie schroff klang, aber sie konnte sich nicht helfen.
»Im Ernst?«, fragte Angela.
»Ja, sicher.«
»Würde es denn etwas ausmachen, wenn wir es wüssten?«
»Nein.« Es war Christopher, der Angela antwortete. »Es würde keinen Unterschied machen. Nicht für Jack.«
Lizzie starrte ihn mit wirrem Blick an. »Aber vielleicht täuschen sie sich«, sagte sie. »Vielleicht war das, woran James gestorben ist, etwas Ähnliches wie bei Jack, aber nicht genau dasselbe. Vielleicht ist es etwas, gegen das man inzwischen ein Mittel gefunden hat.«
»Sie irren sich nicht, Lizzie«, sagte Christopher sanft. »Und auch wenn die Möglichkeit besteht, dass man irgendwann ein Heilmittel entdeckt – noch gibt es keins.«
In diesem Augenblick hasste Lizzie ihn aus tiefstem Herzen, so wie sie zuvor schon von brennendem Hass gegen Anna Mellor erfüllt gewesen war.
»Ich habe sie schon vor zwei Jahren darauf angesprochen«, hatte sie im Wartezimmer des Genetikers zu Christopher gesagt. »Ich habe sie gefragt, ob mit ihm alles in Ordnung ist, und sie sagte, es ginge ihm bestens … es gebe nichts, weswegen ich mir Sorgen machen müsste.«
Christopher antwortete, er habe Anna kurz zuvor angerufen, als Lizzie mit Jack auf dem Klo war, um ihr genau diese Frage zu stellen: Anna hatte gesagt, sie habe damals sofort an DMD gedacht und Jacks Waden nach Vergrößerungen untersucht, was bei Kleinkindern oft ein Warnzeichen sei.
»Sie sagte, seine Beine hätten normal ausgesehen«, sagte Christopher zu Lizzie. »Was sie unglaublich erleichtert habe.«
»Wie schön, dass Anna erleichtert war«, entgegnete Lizzie
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