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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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giftig.
    »Die ganze Geschichte nimmt sie sehr mit, und sie sorgt sich um uns alle«, sagte Christopher. Dann fügte er mit ruhiger Stimme, aber tiefem Schmerz hinzu: »Ich habe es auch nicht gesehen, Lizzie. Und wenn doch, habe ich vorgezogen, es zu ignorieren.«
    » Hast du?«, fragte sie ihn heftig. »Hast du es gesehen?«
    »Ich sah unseren hübschen kleinen Jungen, der nicht so sportlich war wie sein älterer Bruder.« Christopher bemühte sich, ehrlich zu sein. »Ich wusste, dass er später anfing zu laufen als andere, und ich sah seine Schwierigkeiten, nach einem Ball zu treten und zu rennen und zu springen, und ich sah, dass er manchmal ein wenig unbeholfen wirkte, aber ich sagte mir, es mache nichts, solange er glücklich und gesund ist.«
    »Ich auch«, sagte Lizzie.
    »Aber ich bin Arzt.«
    »Plastischer Chirurg«, sagte Lizzie aus Freundlichkeit.
    Doch sie war in ihr Hass-Stadium eingetreten, und dieser Hass zielte in alle Richtungen: auf Anna Mellor, weil sie es nicht gleich festgestellt hatte, auf den Kinder-Neurologen, weil er es festgestellt hatte, auf alle Eltern in den Wartezimmern, deren Söhne nicht DMD hatten, auf Christopher – auch wenn sie ihm das Gegenteil versicherte –, weil er die Anzeichen nicht erkannt hatte.
    Dann wurde ihr klar, dass eigentlich Christopher allen Grund hatte, ihr Vorwürfe zu machen, wenn es darum ging, Schuldzuweisungen zu machen.
    Schließlich war es ihr defektes Gen.
    Doch er tat nichts dergleichen, weder an diesem Abend noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Auch in den finsteren Stunden, als Jacks künftiger Albtraum sich zu entfalten begann, blieb er der zärtlichste Ehemann, den man sich vorstellen konnte. Christopher begriff, unter welchen irrationalen und doch vielleicht unvermeidlichen Schuldgefühlen Lizzie litt, und seine Liebe und Fürsorge für Jack, Edward und Sophie war umfassend.
    Doch eines änderte sich. Christopher konfrontierte Lizzie jetzt wieder offen mit seinen perverseren sexuellen Bedürfnissen, die er lange Zeit unterdrückt hatte.
    »Die Therapie«, erklärte er ihr, »hat eher den Schwerpunkt verlagert, sie ist mir keine große Hilfe mehr. Und ich will niemals zu jemand anderem als zu dir, Lizzie. Ich habe durchzuhalten versucht, aber ich bin nicht so stark wie du. Und so beschämend es ist … ich scheine das zu brauchen. Deshalb habe ich dich gebeten, dass du versuchst, meine Gefühle zu verstehen.«
    Lizzie konnte die Bedürfnisse ihres Mannes zwar nicht annähernd begreifen, besaß aber ausreichend Fantasie, um zu erkennen, dass er die Befriedigung dieser Bedürfnisse jetzt dringender brauchte als je zuvor, um mit der traurigen neuen Welt, in der sie beide lebten, besser zurechtzukommen – ein dunkler Kanal, durch den er wenigstens einen kleinen Teil seiner aufgestauten Qualen und Schmerzen freisetzen konnte.
    Also hatte Lizzie sich bereit erklärt, es zu versuchen. Sie hatte beinahe vergessen gehabt, wie abstoßend, wie völlig anders dieser andere Christopher war. Manchmal verachtete sie sich selbst, wenn sie mit ihm im Bett lag und er Dinge mit ihr tat, die sie sich geschworen hatte nie wieder zuzulassen. Dann aber zwang sie sich, daran zu denken, was ihrem Sohn bevorstand, und der Hass auf sich selbst und ihre Schmerzen verschwanden im Nichts.
    Ich bin nicht wichtig, sagte sie sich. Nicht mehr.
    Bei Tageslicht verstaute sie dann alle Erinnerungen an die Nacht, an die Schmerzen und Erniedrigungen in die unterste Schublade ihrer Emotionen – wohl wissend, was sie tat. Sie verachtete Christopher nicht mehr. Stattdessen erkannte sie immer wieder, weshalb sie sich in ihn verliebt hatte und wie viel aufrichtige Güte und Kraft in ihm waren. Es war so, wie er gesagt hatte, als er ihr seine eigene Krankheit zum ersten Mal eingestand: Seine guten Eigenschaften überwogen seine Schwächen.
    Und abgesehen davon vergötterte Jack ihn.

14.
    Obwohl Shad Tower wahrscheinlich einer der historisch unbedeutendsten und am wenigsten eindrucksvollen Bauten am Flussufer um Butler’s Wharf darstellte, war er zugleich – das musste Helen Shipley sich eingestehen, als sie dem Portier ihren Namen nannte – das glamouröseste Apartmenthaus, das sie je betreten hatte.
    Als Robin Allbeury sie gestern Nachmittag angerufen hatte, um sie über seine Rückkehr aus Brüssel zu informieren, hatte er mit seiner tiefen, sanften Stimme zugleich angeboten, sich schon am nächsten Tag, zu einer Uhrzeit ihrer Wahl, mit ihr zu treffen. Helen hatte daraufhin ihre

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