Blankes Entsetzen
eigenen Pläne für den Samstagmorgen (einkaufen, Waschsalon und saugen) nur zu gern aufgegeben und sich gleich nach dem Aufstehen auf den Weg in den Süden der Stadt gemacht, wo das fünfzehnstöckige Gebäude nahe der Tower Bridge in die Höhe ragte.
Keine Vorurteile, versuchte sie sich bei ihrer Ankunft zu sagen, doch es fiel ihr schwer, in dieser marmornen, mit kostbaren Teppichen ausgelegten Lobby unvoreingenommen zu bleiben. Oder in dem fast lautlos in die Höhe gleitenden Fahrstuhl, ausgestattet mit Bildtelefonanlage und Kameras – ein Lift, der nur für die Wohnung eines Mannes da war. Ganz zu schweigen von dem Augenblick, als sie diese Wohnung betrat. Helens eigenes Apartment lag im ersten Stock eines fahrstuhllosen Hauses und wurde, wenn der Wind aus Norden kam, vom Geruch nach ranzigen Fish and Chips erfüllt; erst vor kurzem war sie dazu gekommen, das Linoleum im Badezimmer mit einem Schnäppchen aus dem örtlichen Teppich-Ausverkauf zu bedecken. Dennoch – wenn sie die Wohnungstür hinter sich schloss, umgab sie ein echtes Gefühl von Privatsphäre und Individualität.
Wie konnte jemand sich hier richtig heimisch fühlen?
»Nett von Ihnen, dass Sie den Weg hierher auf sich genommen haben.« Ein leger gekleideter Robin Allbeury erwartete sie mit ausgestreckter Hand vor dem Lift.
»Nett von Ihnen, dass Sie sich so schnell gemeldet haben.« Helen sah dem Anwalt in die Augen und wurde sich schlagartig des vergleichsweise minderwertigen Schnitts ihres Hosenanzugs bewusst, in dem sie sich zu Anfang des Tages noch ziemlich schick gefühlt hatte. Dann ließ sie den Blick bewusst zurück zu den wundervollen Blumen und den überwältigenden Kunstwerken in seiner Diele wandern.
»Nicht Ihr Geschmack«, bemerkte Allbeury scharfsinnig.
»Eine Tasse Tee wäre nach meinem Geschmack«, konterte Helen.
»Kommt sofort«, sagte der Anwalt. Dann bat er sie, in seinem Wohnzimmer Platz zu nehmen, und verschwand, offenbar, um den Tee selbst zu kochen.
»Scheiße«, flüsterte Helen vor sich hin, als sie sich im Wohnzimmer umsah.
Der Raum selbst war faszinierend möbliert; er war eine Mischung aus östlichen und europäischen Stilelementen, doch die Hauptattraktion der Wohnung war eindeutig der Blick auf den Fluss und die dahinter liegenden Stadtteile. Glastüren, die von einer Wand zur anderen reichten, öffneten sich zu einer riesigen Terrasse, und sowohl drinnen wie auch draußen standen große, dekorative Teleskope. Die Wände waren schlicht und in sanften Farben gehalten; einige waren mit großen, grazil gezeichneten Wandbehängen verziert, die chinesisch aussahen; davor standen schwarze Schleiflacktische. Auf dem Parkettboden lagen kunstvoll gewebte Teppiche, und überall standen schlanke Vasen mit Blumen, von denen Helen – die kaum eine Narzisse von einer Rose unterscheiden konnte – vermutete, es könnten Lilien oder vielleicht Orchideen sein.
»Ich hatte nur noch Teebeutel.« Robin Allbeury trug ein Tablett mit Teekanne, Tassen, Untertassen und einem Teller Gebäck herein, während Helen in einem der bequemen Sessel Platz nahm. »Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Ja.« Helen hatte eigentlich etwas Exotischeres erwartet. »Vielen Dank.«
»Es hat mir schrecklich Leid getan, von Mrs Bolsovers Tod zu erfahren.« Allbeury schenkte Tee ein und reichte Helen ihre Tasse.
»Ermordung«, korrigierte sie.
»Ja, das habe ich gehört.«
Allbeury hielt ihr den Teller mit Gebäck hin. Helen sah, dass es sich um ganz normale Löffelbiskuits und Vollkornkekse handelte – beides liebte sie –, bediente sich und wartete, dass der Anwalt sich entschuldigte, nichts Besseres im Haus zu haben. Doch er biss einfach nur in seinen Vollkornkeks und lehnte sich im Sessel zurück.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er dann.
»Indem Sie mir alles erzählen, was Sie über das Opfer wissen«, sagte Helen. »Alles, was Ihnen einfällt, ob Sie es für relevant halten oder nicht.«
Allbeury schlug die Beine übereinander. »Ich fürchte, Lynne Bolsover war schon lange ein Opfer – lange, bevor sie getötet wurde.«
»Wie lange ist es her, dass Sie ihr zum ersten Mal begegnet sind?« Helen hielt inne. »Wenn ich richtig verstehe, hat das möglicherweise nichts mit Ihrer Firma zu tun. Mr Novak sprach, glaube ich, von Ihrem ›inoffiziellen‹ Geschäft.«
»So in der Art.« Er lächelte leise. »Ich traf sie letzten August. Allerdings war ich schon einen Monat zuvor auf sie aufmerksam geworden … aufmerksam gemacht
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