Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
von ihnen gegründeten Angertaler Weltmeisterschaft lagen sie ständig nur um wenige Punkte auseinander. Um in der Causa Gippel-Rettenstein-Pflicker weiterzukommen, wollte sich Johannes ein Bild über die genealogische Struktur des Dorfes verschaffen. Er wusste zwar, dass alle irgendwie mit allen verwandt waren, aber die genaueren Verbindungen waren für seine Forschung doch von Bedeutung. Auf seine Bitten war die Pfarrersköchin Grete schließlich so freundlich, Johannes die alten Pfarrchroniken auszuleihen, damit er seinen am Fronleichnamstag begonnenen Stammbaum ergänzen und vervollständigen konnte. Sie war eine gutmütige Frau, das wurde Johannes wieder bewusst, als sie ihm sogar jedes Buch nochmals abstaubte, bevor sie es ihm aushändigte. Immer hatte sie ein Lächeln auf den Lippen, und Johannes tat sich schwer zu verstehen, dass eine so herzliche Frau, die trotz ihres Alters schlank und gepflegt und in ihrer Jugend sicherlich hübsch gewesen war, seit fünfzig Jahren an der Seite eines Pfarrers lebte und ihren Lebensinhalt darin sah, diesen zu bekochen, seine Knöpfe anzunähen und seinen Haushalt zu führen.
Die Pfarrchroniken zeichneten, neben den Daten der einzelnen Feste, vor allem alle Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse auf. Johannes schauderte, als er herausfand, dass er auf der Seite seiner Großmutter mit der Familie Rossbrand verwandt war, denn Robert, sein Volksschulklassenkollege, der sein Großgroßgroß-Cousin zu sein schien, war ihm schon immer unsympathisch gewesen, nicht zuletzt wegen der dreckigen Witze, welche dieser permanent riss. Darüber, dass in St. Peter am Anger jeder mit jedem verwandt war, hatte sich auch Doktor Opa des Öfteren beschwert, und Johannes erinnerte sich, dass er im Patientenjournal von Schwimmhäuten zwischen den Zehen der Familie Wildstrubel gelesen hatte. Ins Staunen kam Johannes jedoch, als er in die jüngeren Generationen eintauchte; Günther Pflickers Mutter hatte mit ihrem Mädchennamen Rettenstein geheißen. Johannes musste diesen Eintrag drei Mal lesen; Maria und Günther waren Cousine und Cousin!
Liebe zivilisierte Freunde! Die Bergbarbaren rühmen sich beim Zusammentreffen mit anderen Stämmen und auch in all ihren Selbstglorifizierungen einer Sache: ihrer Fähigkeit, große Feste aus dem Plan in die Realität zu überführen, ohne organisatorische Absprachen treffen zu müssen. Als wäre das in ihren Physeis und Psychen so vorgesehen, hat ein jeder Bewohner seine Aufgabe, die er gewissenhaft erfüllt. Die einen stellen Heurigenbänke aus dem Keller der Mehrzweckhalle auf dem Dorfplatz auf, die anderen bauen die Getränkebar vor dem Wirtshaus. Ebenso errichtet man eine Freiluft-Kaffee- und Kuchenbar vor dem Café Moni, die Feuerwehr kümmert sich um den überdimensionierten Grillwagen, die Jungscharkinder studieren Tänze ein, die Blasmusik sorgt für musikalische Unterhaltung, und sobald der Sonnengott seine Rösser heimwärts steuert, verfallen die Bergbarbaren in ekstatische Feierlaune. Das St.-Petri-Jahr gliedert sich nicht nach dem gregorianischen Kalender, sondern nach den Festen, auf die das Dorf im Kollektiv hinharrt. Und wer glaubt, daß diese ausufernde Geselligkeit zumindest vom Pfarrer mit katholischer Strenge angeprangert wird, der irrt. Der Pfarrer läuft bei solchen Festen munter und fröhlich durch die Reihen und spendiert den jungen Unverheirateten sowie den verheirateten Kinderlosen im Namen der Kirche doppelte Schnäpse – in der Hoffnung, die Konjunktur von Hochzeiten und Taufen anzukurbeln. Ich plane nun, mich in ein solches Fest einzuschleusen, in der Hoffnung, weitere Wahrheiten über das Wesen der Bergbarbaren zu entdecken.
Das Sonnwendfeuer fand am 19. Juni statt und wurde vom Bürgermeister mit dem Anzapfen eines 500-Liter-Fasses vom Wirt selbst gebrauten Bieres eröffnet, sobald die Sonne begann, die Alpenkämme rot zu färben. Das Dorf war in festlicher Stimmung, und je später es wurde, desto voller wurde der Dorfplatz. Nachdem es dunkel geworden war, führten die Jungscharkinder einen Fackeltanz auf, zu dem sie weiße T-Shirts mit aufgedrucktem Dorfwappen trugen. Wochenlang war geprobt worden, und einige Dorfmädchen waren so ambitioniert, dass sie inbrünstig das Lied von Céline Dion mitsangen, zu dessen romantischen Klängen sie ihre Choreografie entwickelt hatten. Die Popmusik anstelle der Blasmusik als Hintergrund für die Fackeltänze war ein Versuch, die Jungschar ins neue Jahrhundert zu führen, doch da alles
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