Blau wie Schokolade
leben.«
Ich war fertig. Wieder herrschte Schweigen.
Dann sprach Becky. Ihre Stimme war heiser und gleichzeitig weich. Wie eine Mischung aus Geröll und Zuckerwatte. »Ich auch. Manchmal denke ich, das einzig Lebendige an mir ist meine Wut.«
»Ja, ich bin hin und wieder auch einfach nur sauer«, sagte Soman. »Einfach nur sauer.«
»Ich glaube, die Wut sitzt genetisch in meinen Muskeln«, sagte Bradon. Er lächelte. Der Mann strahlte so, dass seine weichen dunklen Augen ebenfalls glänzten.
»Willst du Wut in den Muskeln sehen, Mann?«, fragte Soman. Er stand auf und spannte seinen Arm mit knurrenden Geräuschen an. Seine Zöpfe fielen ihm auf die Arme. Er ließ seine Muskeln spielen, Bizeps, Trizeps, die Arme hoch, die Arme seitlich nach unten. Wir waren alle ziemlich beeindruckt, nur Drake nicht. Der sah eher blass aus. Wie Spucke.
Emmalines Stimme durchschnitt den Raum wie eine stumpfe Rasierklinge. »Rührselig! Alle, wie ihr da seid! Ihr begreift das Ziel der Aggressionsbewältigungstherapie überhaupt nicht. Das hier ist kein Witz. Es ist nicht zum Lachen. Eure Wut frisst euch innerlich auf, und ihr sitzt hier und lacht. Steht auf, bevor ich etwas nach euch werfe!«
Wir rührten uns nicht.
»Ich habe gesagt, steht auf, ihr elenden, angstgesteuerten Menschen! Aufstehen!«
Wir erhoben uns.
»Schließt eure Augen und kanalisiert eure Wut.«
Wir versuchten es. Ich schloss die Augen. Ich kanalisierte meine Wut auf den Schlappschwanz und hoffte, dass ein Klavier von einem Hochhaus auf ihn herabfallen würde.
»Unglaublich.« Ich öffnete ein Auge. Emmaline hatte die Hände in die Hüften gestützt. »Ihr versucht überhaupt nicht, euch in den Griff zu bekommen. Eure dumme, sinnlose, unproduktive Wut loszuwerden. Ich merke das. Ihr suhlt euch darin. Ihr denkt nicht an Frieden, ihr denkt nur an Sachen, die euch aufregen. Ihr erstellt Listen im Kopf. Ihr sucht nach Möglichkeiten, euch zu rächen.«
Soman hustete.
Bradon seufzte.
Becky sagte: »Ich komme nicht vorwärts mit meinen Gedanken.«
»Stopp! Sofort. Lasst die Augen zu, ihr armseligen Schlucker!«
Ich fühlte mich nicht armselig. Ein herunterstürzendes Klavier war eine Lösungsmöglichkeit, aber ich fand, das zu erwähnen, sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich wollte eine gute Bewertung in meinem Aggressionsbewältigungskurs, ein Abzeichen oder so was.
»Zuschlagen!«, brüllte Emmaline plötzlich mit ausgestreckten Armen. Alle rissen die Augen auf. Ich zuckte zusammen, Becky ebenfalls.
»Ich habe gesagt, ihr sollt zuschlagen! Los! Schlagt zu!«, kreischte Emmaline und flatterte mit den Armen.
Da ich wusste, dass Bradon als Gentleman mich nicht schlagen würde und Soman ebenfalls nicht, weil kein Mann in seiner Familie Frauen schlug, hatte ich keine Angst. Drake versank in seinem Sitzsack. Er wollte nicht traktiert werden. Aus dem Augenwinkel spähte ich zu Becky hinüber. Durch Emmalines Schreie war sie ganz blass geworden. Sollte ich etwa Becky schlagen? Das war nur wenig reizvoll.
»Die Sandsäcke!«, brüllte Emmaline. »Schlagt in die Sandsäcke! Los! Gebt die Wut in euch frei! Fangt an, ihr unterdrückten, vor Wut kochenden Menschen! Schlagt zu!«
Und die fünf unterdrückten, vor Wut kochenden Menschen schauten die Sandsäcke an und begannen zu schlagen. Die von Soman und Bradon schwangen bald durch die Luft, doch auch Becky machte sich gar nicht schlecht für ihre zierliche Gestalt. Drake boxte so vorsichtig, als habe er Angst, er könne sich die Fingernägel abbrechen.
Ich prügelte wie von Sinnen auf meinen Sandsack ein.
Nach rund fünfunddreißig Minuten befahl die unerschrockene Domina uns schwitzenden Kursteilnehmern, sich unverzüglich zum Basteltisch zu begeben.
»Fürs Erste ist die Aggressivität aus euch heraus, jetzt wollen wir die Leere mit Kunst füllen«, sagte Emmaline und warf uns rosa Handtücher zu, damit wir unseren verschwitzten Zorn abwischen konnten. Soman, Bradon und ich waren klatschnass. Drake zog Krawatte und Jacke aus. Ich hatte gesehen, dass Becky beim Schlagen geweint hatte.
»Macht euren Zorn zu Kunst!«, befahl Emmaline.
Außer Drake schien niemand von uns ein Problem damit zu haben. Ihm fiel kein besseres Motiv ein als die beiden Polizisten, die ihn festgenommen hatten.
Soman fertigte mit Metall und Seilen einen fünfzehn Zentimeter hohen Turm. Ich muss zugeben, dass er ganz schön eindrucksvoll aussah. Irgendwie hatte er die rostigen Farben, den Silberglanz und die rauen Kanten so
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