Blaue Wunder
an. Er ist so grauenvoll, dass ich kaum hinsehen kann. Ich sehe zwei Zungen züngeln. Die Frau ist nur verschwommen zu erkennen. Martin Gülpen schiebt sich eine rötliche Haarsträhne aus dem Gesicht, seine sonst gerne mal blassen Wangen sind vor lauter Leidenschaft gerötet, und eine blecherne Stimme flüstert immer wieder: «Vergiss nie, dass ich deine Mutter duze!» Würg! Mir ist schon ganz flau. Viel schlechter ging es mir auch nicht, als ich auf leeren Magen «Alien 4» anschaute.
Draußen hat es angefangen zu regnen. Es ist allerhöchste Zeit, etwas Sinnvolles zu tun. Aber was? Wie diese Astrid wohl aussieht?
Ich würde sie ja gerne mal sehen. Nur so. Aus reiner Neugier. Und in diesem Moment fallen mir fast gleichzeitig zwei Dinge ein. Nämlich erstens, dass Astrid heute Nachmittag bei Martin vorbeikommen will, und zweitens, was ich jetzt Sinnvolles tun könnte: einen kleinen Spaziergang machen.
Zwanzig Minuten später schlendere ich, getarnt mit dem riesigen roten Schirm, den ich bei Erdal im Schrank gefunden habe, wie absichtslos an Martins Haus vorbei. Was soll’s, versuche ich mich vor mir selbst zu entschuldigen, ich brauche frische Luft, und die ist hier so frisch wie überall sonst.
Weitere zwanzig Minuten später latsche ich nun schon zum fünften Mal am Abendrothsweg Nummer 8 vorbei. Meine Turnschuhe sind mittlerweile aufgeweicht. So ganz allmählich gelingt es mir immer weniger, mir vorzumachen, dies hier sei eine völlig harmlose und null peinliche Aktion. Je länger der Schwachsinn dauert, den man macht, desto schwachsinniger kommt er auch einem selber vor. Es ist wirklich erstaunlich, wie man in Situationen größter seelischer Anspannung immer genau das tut, wovon man sich selber, wäre man bei klarem Verstand, vehement abraten würde.
Wäre ich meine beste Freundin, ich würde mir befehlen, sofort nach Hause zu gehen und mich den Tatsachen zu stellen: Dein Freund hat sich gegen dich entschieden! Akzeptier das! Heul dir die Augen aus dem Kopf! Schlaf mit einem gut gebauten Tölpel! Mach Dummheiten! Spreng sein Auto in die Luft! Aber tu eines nicht: Lunger nicht vor seiner Wohnung rum in der Hoffnung, einen Blick auf ihn und seine Verlobte zu erhaschen! Du wirst dich dein Leben lang dafür schämen!
Das würde ich mir sagen, wenn ich meine beste Freundin wäre. Und ich würde ihr antworten: «Ich weiß, du hast Recht. Aber ich kann nicht anders.» Und wenn sie meine beste Freundin wäre, würde sie mir antworten: «Okay, warte einen Augenblick, ich ziehe mir bloß meine Jacke an und komme mit.»
Etwa hundert Meter entfernt parkt ein kleines blaues Auto ein. Ob das Astrid ist? Ich postiere mich schräg gegenüber dem Eingang zu Martins Haus und tu zum wiederholten Male so, als müsse ich mir die Schuhe zubinden. «Hi, kennen wir uns nicht?»
Ich fahre erschrocken hoch und ramme der Person, die sich da von hinten angeschlichen hat, versehentlich den Schirm ins Gesicht.
«Oh, verdammt, Entschuldigung, das wollte ich nicht!» Zunächst sehe ich nur ein Paar Turnschuhe, in etwa so nass wie meine. Dann Cargohosen, eine rote Jacke mit irgendeiner Aufschrift drauf und eine Hand, die sich einen roten Fleck auf der Stirn reibt.
«Du hättest mir fast das Auge ausgestochen!» «Sorry, aber was erschrickst du mich auch so?» Erst jetzt erkenne ich den Typen, den ich aufgespießt habe. Es ist Super-Nucki. Verdammt, ich kenne drei Leute in Hamburg, warum muss einer von denen ausgerechnet hier und jetzt auftauchen und meine Mission gefährden?
«Du wohnst doch über der Videothek in der Hoheluftchaussee, oder?»
Na toll, Super-Nucki, der angeblich so eigenbrötlerische Menschenverachter, ist in Gesprächslaune.
«Stimmt.»
«Bei Erdal, oder?»
«Korrekt.»
Er scheint zu kapieren, dass meine knappen Antworten auf die geringe Breitschaft hindeuten, mich weiter mit ihm zu unterhalten.
«Dann bis demnächst.»
«Klar, bis demnächst, mach’s gut!»
Es gelingt mir nicht, meine Begeisterung über das Ende des Gesprächs zu verhehlen. Ich schaue Super-Nucki noch ein paar Sekunden nach. Er arbeitet hauptsächlich an den Wochenenden in der Videothek bei uns im Haus. Erdal sagt, er sei seltsam, aber eigentlich ein ganz guter Typ. Ist Fotograf, aber wohl nicht besonders dick im Geschäft, deshalb der Nebenjob. Erdal darf gewisse Filme, die er sich immer wieder anschaut, bei Super-Nucki umsonst ausleihen, darunter «Natürlich blond» und «Tod in Venedig».
Als ich meine Observation von Haus Nummer 8
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