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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N French
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ihr. Er machte einen ängstlichen Eindruck und hatte bereits Tränen in den Augen. »Kommen Sie mit rein?«
    »Wenn Sie das möchten.«
    »Ja, bitte. Ich kann nicht …« Er schluckte.
    »Na, dann wollen wir mal!«
    Frieda nahm ihn wie ein Kind an der Hand und führte ihn den Gang entlang zu dem kleinen Zimmer, in dem seine Mutter saß. Alan ging schleppend, und seine Finger fühlten sich eiskalt an. Frieda lächelte ihm aufmunternd zu, ehe sie an die Tür klopfte und sie dann öffnete. Alan trat ein. Sie hörte, wie gepresst er atmete. Einen Moment stand er reglos da und starrte auf die alte Frau, die dort in gebückter Haltung in ihrem Sessel saß. Dann stolperte er zu ihr hinüber und sank neben ihr auf die Knie.
    »Mutter? Mum?«
    Frieda musste sich abwenden, weil sie den entsetzten und zugleich inbrünstig flehenden Ausdruck auf seinem Gesicht nicht ertragen konnte.
    »Bist du wieder ein unartiger Junge gewesen?«
    »Ich bin nicht er. Ich bin der andere.«
    »Du warst immer unartig.«
    »Du hast mich weggegeben.«
    »Nein! Das hätte ich niemals getan. Lieber hätte ich mir die Zunge herausgeschnitten. Wer hat dir denn so etwas eingeredet?«
    »Du hast mich ausgesetzt. Warum hast du das getan?«
    »Unser kleines Geheimnis, was?«
    Frieda, die auf dem Bett saß, musterte Mrs. Reeve aufmerksam.
Bestimmt sprach sie gerade von dem, was sie und ihr Sohn vor all den Jahren getan hatten.
    »Warum mich?«
    »Du bist ein unartiger Junge. Was soll man mit so einem Jungen nur machen?«
    »Ich bin Alan. Nicht Dean. Ich bin dein anderer Sohn. Dein verlorener Sohn.«
    »Hast du einen Doughnut für mich?«
    »Du musst mir sagen, warum du das getan hast. Ich muss es wissen. Dann lasse ich dich in Ruhe.«
    »Ich esse gerne Doughnuts.«
    »Du hast mich in ein dünnes Handtuch gewickelt und einfach irgendwo liegen lassen. Ich hätte sterben können. War dir das denn egal?«
    »Ich möchte jetzt nach Hause.«
    »Was hat mit mir nicht gestimmt?«
    Mrs. Reeve tätschelte sanft seinen Kopf. »Du ungezogener, ungezogener Dean. Macht aber nichts.«
    »Was bist du nur für eine Mutter?«
    »Ich bin deine Mutter, Liebling.«
    »Er steckt in Schwierigkeiten, dein heiß geliebter Dean. Er hat etwas sehr Schlimmes getan. Etwas Böses.«
    »Ich weiß nichts.«
    »Er ist gerade bei der Polizei.«
    »Ich weiß nichts.«
    »Sieh mich an – sieh mich an. Ich bin nicht er.«
    »Ich weiß nichts.« Sie begann sich in ihrem Sessel vor und zurück zu wiegen, wobei sie den Blick auf Frieda gerichtet hielt und die Worte vor sich hin sang wie ein Wiegenlied. »Ich weiß nichts. Ich weiß nichts. Ich weiß nichts.«
    »Mum.« Vorsichtig nahm Alan ihre Hand und verzog gequält das Gesicht, ehe er das Wort ausprobierte: »Mummy?«
    »Ungezogen. Sehr ungezogen.«
    »Ich war dir völlig egal, oder? Du hast nie auch nur einen
Gedanken an mich verschwendet. Was bist du bloß für ein Mensch?«
    Frieda stand auf und nahm Alan am Arm. »Kommen Sie«, sagte sie, »das reicht. Sie müssen jetzt nach Hause, wo Sie hingehören.«
    »Ja«, sagte er. Sein Gesicht war tränennass. »Sie haben recht. Sie ist nur ein böses altes Weib. Sie ist nicht meine Mutter. Ich kann sie nicht mal hassen. Sie bedeutet mir nichts, gar nichts.«
     
    Im Taxi schwiegen sie. Alan blickte auf seine Hände hinunter, Frieda schaute in die Nacht hinaus. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und dieses Mal blieb der Schnee liegen. Wie Puderzucker fiel er auf die Gehsteige, die Dächer und die Äste der Platanen. Sie würden weiße Weihnachten bekommen, ging Frieda durch den Kopf. Zum ersten Mal seit vielen Jahren. Sie musste daran denken, wie sie und ihr Bruder als Kinder auf einem Schlitten den Hügel hinuntergesaust waren, nicht weit vom Haus ihrer Großmutter entfernt. Mit brennenden Wangen und Schneeflocken auf den Wimpern, den Mund weit aufgerissen, während die Welt weiß und verschwommen an ihnen vorbeirauschte. Wann war sie das letzte Mal Schlitten gefahren? Wann hatte sie das letzte Mal einen Schneemann gebaut oder einen Schneeball geworfen? Und wie lange hatte sie ihren Bruder schon nicht mehr gesehen? Ihre Eltern? Die ganze Welt ihrer Kindheit hatte sich in Nichts aufgelöst, und anstelle dieser Welt hatte sie sich eine Erwachsenenwelt voller Verantwortung aufgebaut, geprägt von den Qualen und Bedürfnissen anderer Menschen – eine wohlgeordnete Welt mit vielen verschiedenen Fächern und gut geschützten Grenzen.
    »Es ist gleich hier, auf der linken Seite«, sagte Alan zum

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