Blauer Montag
melden, es am Ende aber doch nicht geschafft. Sie fehle ihm so sehr, dass es richtig wehtue. Die Vorstellung, sie nie wieder zu sehen, sie nie wieder im Arm zu halten, sei ihm unerträglich, und deswegen bitte er sie hiermit um ein Treffen. Er breche schon in wenigen Tagen nach Amerika auf, würde sie aber gerne noch einmal sehen. Er müsse sie noch einmal sehen. Bitte, schrieb er: Bitte, Frieda, bitte.
Frieda saß mehrere Minuten reglos vor dem Bildschirm und starrte auf den Text. Dann drückte sie die Löschtaste, stand auf und schenkte sich ein Glas Wein ein. Sie trank es im Stehen, neben dem Kamin, der voller kalter Asche war. Mittlerweile war es halb drei Uhr morgens – die schlimmste Zeit, um wach und von heftiger Sehnsucht erfüllt zu sein. Sie setzte sich wieder an den Computer und holte die Nachricht aus dem Papierkorb. Während der letzten Tage war es ihr vorgekommen, als wäre die Sache mit Sandy schon lange vorbei und ganz weit weg. Während er sich nach ihr verzehrt hatte, war sie in Gedanken bei dem entführten Jungen gewesen. Nun aber, mit dieser Mail, brach auch über sie wieder die Sehnsucht herein, eine Flut aus Traurigkeit. Wäre er jetzt bei ihr gewesen, hätte sie mit ihm über ihre Gefühle reden können. Sandy verstand sie wie kein anderer. Er war ein aufmerksamer Zuhörer, der einem nie ins Wort fiel. Ihm konnte sie sogar Versagensängste, Selbstzweifel oder Schuldgefühle eingestehen. Er verstand sie selbst dann, wenn sie schwieg.
Sie schrieb: »Sandy, komm vorbei, sobald du das hier liest, egal, um welche Zeit.« Einen Moment stellte sie sich vor, wie es sich anfühlen würde, die Tür aufzumachen und sein Gesicht zu sehen. Dann blinzelte sie und schüttelte den Kopf. Wieder drückte sie auf die Löschtaste, sah zu, wie ihre Nachricht verschwand, schaltete den Computer aus und ging hinunter in ihr Schlafzimmer.
Drei Uhr morgens war eine gefährliche Zeit zum Nachdenken. Während Frieda im Bett lag und zur Decke hinaufstarrte, konnte sie zwar sehr klar denken und wurde durch nichts abgelenkt, doch ihre Gedanken hatten auch etwas Kaltes, als läge sie auf dem Grund des Meeres. Sie dachte an Dean Reeve. Und an Terry. Was musste sie tun, um in die Köpfe dieser beiden zu gelangen? Sollte sie aufgrund ihres Berufes nicht eigentlich wissen, wie das ging? Frieda hatte den Großteil ihres Erwachsenenlebens damit zugebracht, in irgendwelchen Räumen zu sitzen und zuzuhören, während andere Leute redeten und redeten und redeten. Manche erzählten ihr Wahrheiten, die sie vorher nicht einmal sich selbst eingestanden, geschweige denn laut ausgesprochen hatten. Andere logen, waren selbstgerecht oder ergingen sich in Selbstmitleid. Wieder andere waren wütend, traurig oder völlig am Boden zerstört, doch solange sie sprachen, war Frieda in der Lage, ihre Worte aufzugreifen und daraus eine Geschichte zu machen, die dem Leben der betreffenden Leute so etwas wie Sinn verlieh oder ihnen vielleicht auch nur eine Art Refugium lieferte, in dem sie überleben konnten. Es handelte sich dabei stets um Leute, die von sich aus ihre Hilfe suchten oder durch andere an sie verwiesen wurden. Was aber machte man mit Menschen, die gar nicht bereit waren zu reden – oder nicht in der Lage, aus sich herauszugehen? Wie kam man an die heran?
In den vergangenen Jahren hatte sie mehrfach Seminare besucht, in denen das Thema Folter zur Sprache gekommen war.
Warum war das zur Zeit so aktuell? Warum fanden die Leute dieses Thema plötzlich derart faszinierend, dass sie immer wieder das Bedürfnis hatten, darüber zu diskutieren? Lag das irgendwie in der Luft? Dean Reeve. Sie hatte sein Gesicht gesehen, sein bedächtiges Lächeln. Er würde nichts sagen, egal, was man mit ihm anstellte. Vermutlich würde er es sogar noch als eine Art Triumph betrachten, gefoltert zu werden, weil die gegnerische Seite dadurch ihre eigene Menschlichkeit und all ihre Werte verriet – noch dazu ohne Erfolg. Aber was war mit Terry? Wenn man … nein, dachte Frieda, nicht man, sondern ich, Frieda Klein. Wenn ich mit Terry Reeve allein in einem Raum wäre. Nur für eine Stunde. Frieda stellte sich die medizinischen Instrumente vor, die Skalpelle, die Klammern. Ein paar Drähte, die sich unter Strom setzen ließen. Einen Haken an der Decke. Eine Kette oder ein Seil. Eine Wanne mit Wasser. Ein Handtuch. Frieda verfügte über eine medizinische Ausbildung. Sie wusste, auf welche Weise man einem Menschen echten, tiefen Schmerz zufügen konnte.
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