Blauer Montag
sich.
»Einer von meinen Leuten kann Sie nach Hause fahren.«
»Ich würde lieber zu Fuß gehen.«
»Mitten in der Nacht? Bis zu Ihrem Haus sind es mehrere Kilometer.«
»Das ist schon in Ordnung.«
»Außerdem herrscht draußen klirrende Kälte.«
»Das ist auch in Ordnung.«
Es war mehr als in Ordnung: Es war gut. Frieda sehnte sich danach, allein durch die Dunkelheit und die Kälte der Stadt zu wandern, die sie liebte. Sie wollte dahinmarschieren, bis Körper und Geist so richtig müde wurden. Ihr kuscheliges kleines Haus erschien ihr wie ein fernes Ziel, das sie durch enorme körperliche Anstrengung erreichen musste.
Als sie mit Rose in den Verhörraum gegangen war, in dem ihre Schwester saß, hatte sie die junge Frau am Arm gehalten und gespürt, wie diese am ganzen Körper zu zittern begann. Rose war gleich in der Tür stehen geblieben und hatte mit beängstigender und zugleich ängstlicher Eindringlichkeit die vor ihr sitzende Gestalt angestarrt.
Zweiundzwanzig Jahre zuvor war ihre kleine Schwester auf dem Heimweg von der Schule hinter ihr hergetrottet und plötzlich verschwunden, verschluckt von den Ritzen im Gehsteig. Ein mageres kleines Mädchen mit dunklem Haar und einer Zahnlücke. Seitdem verfolgte dieses kleine Mädchen Rose wie ein Geist. Das schmale, blasse Gesicht und die flehende, lispelnde Kinderstimme, die immer wieder ihren Namen rief, waren bis in ihre Träume vorgedrungen. Rose hatte sich ihre Schwester in all ihren späteren Lebensphasen vorzustellen versucht – mit zehn, im Teenageralter, als junge Erwachsene. Computergenerierte Bilder hatten ihr gezeigt, wie Joanna wohl jeweils ausgesehen hätte. Sie hatte auf der Straße nach ihr Ausschau gehalten und sich manchmal eingebildet, sie in einer Menschenmenge zu erspähen. Obwohl sie all die Jahre davon ausgehen musste, dass ihre Schwester längst tot war, hatte sie sie nie ganz losgelassen.
Wie viele Male hatte Rose sich diese Wiedervereinigung schon ausgemalt? Wie sie beide nach Luft ringen und zögernden Schrittes aufeinander zugehen würden, um sich dann einen Moment tief in die Augen zu blicken, ehe sie sich in die Arme fielen und einander liebevolle Worte des Trostes ins Ohr flüsterten. Nun aber saß da diese übergewichtige, wasserstoffblonde Frau mittleren Altes, die sie mit gleichgültiger, fast schon apathischer Miene musterte, als wäre sie eine Fremde. Falls sie überhaupt eine Gefühlsregung zeigte, dann höchstens Verachtung.
Frieda beobachtete, wie Rose ihr Gegenüber einen Moment ungläubig anstarrte und dann mit einem plötzlichen Gefühl
von Entsetzen begriff, dass es sich tatsächlich um Joanna handelte. Woran hatte sie ihre Schwester erkannt? Vielleicht an den Augen, an der Form des Kinns, einer bestimmten Bewegung des Kopfes.
»Jo-Jo?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
Aber Terry – Joanna – reagierte nicht.
»Joanna, bist du es wirklich? Ich bin es, Rose.«
»Ich weiß nicht, was das soll.«
»Ich bin Rose. Rosie«, stieß sie mit einem Schluchzen hervor. »Weißt du denn nicht, wer ich bin?« Dabei klang sie, als würde sie das selbst nicht mehr so genau wissen.
»Mein Name ist Terry.«
Rose zitterte vor Aufregung. Sie drehte sich kurz zu Frieda um, wagte dann aber sofort einen neuen Versuch. »Du bist meine Schwester. Deine Name ist Joanna. Du bist als kleines Mädchen entführt worden. Erinnerst du dich nicht? Wir haben dich überall gesucht. Du musst dich doch daran erinnern. Aber jetzt bist du ja wieder da.«
Joanna sah Frieda an. »Muss ich mir das anhören?«
»So etwas braucht seine Zeit«, antwortete Frieda, sowohl an Rose als auch an Joanna gewandt. Keine von beiden schien sie zu hören.
Frieda ging den kleinen Park entlang, der im Mondlicht still und weiß dalag. Vorbei an der Kirche, die samt etlichen eng beieinanderstehenden Grabsteinen in eine Straßengabelung gequetscht war. Hindurch unter knorrigen, kahlen Platanen und Lichterketten, die menschenleere Straßen beleuchteten. Vorbei an demolierten Telefonzellen und einer umgeworfenen Mülltonne, aus der eine scheußliche zähflüssige Masse quoll und das jungfräuliche Weiß der dünnen Schneedecke verschandelte. Rostige Geländer. Mit Brettern zugenagelte Türen. Reihenweise parkende Autos. Leere Büroblöcke, in denen sämtliche Computer und Telefone während der Feiertage ruhten. Metallene
Rollläden voller Graffiti. Häuser mit blinden Fenstern, hinter denen Menschen schliefen, schnarchten, vor sich hin murmelten,
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