Blauer Montag
an, während sie die Hände an seiner Wirbelsäule hinabgleiten ließ.
»Ich muss dir etwas sagen.«
»Schieß los.«
»Bitte versteh mich jetzt nicht falsch. Ich weiß, was du durchgemacht hast. Ich weiß, wie schrecklich das alles für dich war, und wie aufwühlend. In jeder erdenklichen Hinsicht. Ich habe mich immer bemüht, dich nach Kräften zu unterstützen, und ich habe nie auch nur einen Augenblick aufgehört, dich zu lieben – auch wenn ich dich manchmal am liebsten geschüttelt und angeschrien hätte. Aber jetzt ist es vorbei, und wir bekommen unser Leben zurück. Hörst du, Alan? Wir haben das beide verdient. Wir haben unser Glück verdient. Vielleicht sollten wir doch über eine Adoption nachdenken. Ich wünsche mir ein Kind, und du gibst bestimmt einen wunderbaren Vater ab. Ich weiß, du hast immer gesagt, du willst unbedingt ein eigenes, aber vielleicht ist das jetzt ja anders, nachdem du das alles durchgemacht hast. Wichtig ist doch nur, dass wir das Kind lieben und das Kind uns.«
Sie streichelte sein dichtes graues Haar. »Und irgendwann musst du auch wieder anfangen, unter Leute zu gehen. Wir haben unsere Freunde schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal Besuch hatten. Ich verstehe natürlich, dass du jetzt
erst einmal ein paar Tage deine Ruhe willst, nachdem dieser Albtraum endlich vorüber ist, aber ein Dauerzustand darf das nicht werden. Irgendwann musst du auch wieder richtig zur Arbeit gehen. Du musst wieder raus in die Welt. Falls du das Gefühl hast, dass es noch nötig ist, könntest du ja auch wieder zu Dr. Klein gehen.« Sie schwieg einen Moment. »Alan. Alan? Schläfst du schon?«
Dean Reeve murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Er hoffte, dass es so klang, als hätte er schon halb geschlafen und ihren Vortrag gar nicht recht mitbekommen. Falls sie ihn nun im Verdacht hatte, dass er nur so tat, als würde er schlafen, um einem unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen, dann war das auch in Ordnung. Ihm war ohnehin klar, dass er dieses Spiel höchstens noch ein paar Tage fortsetzen konnte. Bisher war es besser gelaufen als erwartet: Sie hatte noch keine Sekunde an seiner Identität gezweifelt und sich richtig ins Zeug gelegt. Zu seiner Überraschung war sie eine recht leidenschaftliche Frau. Trotzdem betrachtete er das Ganze nur als eine Art Kurzurlaub. Bald würde er verschwinden und damit alle vor ein Rätsel stellen. Sie würden schon einen Grund finden, auf den sie es schieben konnten: vielleicht eine Midlife-Crisis, vielleicht auch seine traumatischen Erlebnisse oder die Erkenntnis, dass er und seine Frau sich auseinandergelebt hatten, oder einfach ein starkes Bedürfnis nach Veränderung. Hauptsache, er war frei und konnte noch einmal ganz von vorne anfangen.
Er rollte sich herum, tat dabei recht benommen, als würde er schon halb schlafen oder zumindest versuchen, ihr das weiszumachen, und legte den Arm über ihren schweißnassen Busen. Er musste an die arme Terry denken. Wobei die ihre besten Jahre auch schon hinter sich hatte. Vermutlich würde sie schon irgendwie klarkommen, vorausgesetzt, sie sagte den Leuten, was sie hören wollten. Dann musste er an die andere denken – die, die sie nicht gefunden hatten und nun auch nie mehr
finden würden, weil sie längst unter der kalten Erde lag, wo sie nicht mehr reden konnte. Und selbst wenn sie aus dem Grab heraus sprechen könnte, würde ihm das nicht mehr schaden. Nichts konnte ihm mehr etwas anhaben. Selbst diese Frieda Klein, deren schlanke Finger er einmal kurz auf seiner Hand gespürt und die mit ihren Augen bis in sein Innerstes geblickt hatte, besaß nun keine Macht mehr über ihn. Er war ein neuer Mensch und konnte gehen, wohin es ihm beliebte, und sein, wer er wollte. Nur ganz wenige auf diese Erde bekamen eine solche Chance. Nur wenigen wurde eine solche Freiheit zuteil. Er lächelte in Carries weiche Schulter hinein, hinein in die samtene Nacht, und spürte dabei, wie er langsam in einen Traum versank, einen Traum von Dunkelheit, Wärme und Geborgenheit.
48
A m Morgen vor Silvester, einem eisigen, windstillen Morgen, an dem sämtliche Autofenster und Dächer mit einer Frostschicht überzogen waren, wachte Frieda noch früher als sonst auf. Sie blieb lange in der Dunkelheit liegen, ehe sie aufstand, sich ankleidete und hinunterging, um sich eine Kanne Tee zu kochen. Die erste Tasse trank sie gleich im Stehen, an die Hintertür gelehnt,
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