Blauer Montag
den Blick auf ihren kleinen Garten gerichtet, der in frostüberzogener Stille vor ihr lag. In vier Tagen würde sie wieder an die Arbeit zurückkehren. Ein neues Jahr. Sie wollte keine guten Vorsätze fassen. Es gab nichts, womit sie aufhören wollte.
Während die Medien seit Tagen die Rückkehr von Matthew Faraday feierten, quälte Frieda nach wie vor der Gedanke an Kathy Ripon, die sie nicht hatten retten können und für deren Schicksal sie sich verantwortlich fühlte. Nacht für Nacht hatte sie von ihr geträumt, und auch wenn sie wach war, ging ihr die junge Frau nicht aus dem Kopf. Sie hatte auf den Fotos so nett ausgesehen, so klug und selbstironisch. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie in ihr Verderben lief, als sie die Schwelle von Dean Reeves Haus überschritt und hineingesaugt wurde in jenes schwarze Loch. Was hatte sie dabei wohl empfunden? Was war das für ein Gefühl gewesen, als sie begriff, dass es vorbei war und niemand kommen würde, um sie zu retten? Bei dem Gedanken wurde Frieda übel, doch sie zwang sich, immer wieder darüber nachzudenken, als könnte sie dadurch einen Teil von Kathy Ripons Schmerz und Angst auf sich nehmen. Zwei verlorene Kinder waren wiedergefunden worden, aber man konnte Menschenleben nicht gegeneinander aufrechnen. Dazu waren sie zu kostbar.
Frieda wusste, dass sie sich das mit Kathy niemals verzeihen würde, und sie wusste auch, dass die Geschichte nicht vorbei war, solange Kathys Leiche nicht gefunden wurde und ihre Eltern nicht die Möglichkeit bekamen, sie zur Ruhe zu betten und mit ihrer Trauerarbeit zu beginnen. Aber nachdem man Kathy bis jetzt noch nicht gefunden hatte, würde man sie womöglich niemals finden.
Schließlich fasste Frieda einen Entschluss, verließ ihren Beobachtungsposten am Fenster und zog rasch ihren langen, warmen Mantel und ihre Handschuhe an. Eilig verließ sie das Haus, fuhr mit der U-Bahn nach Paddington und stieg dort in den Zug um. Er war fast leer, außer ihr saßen nur noch ein paar Leute mit Reisegepäck im Abteil. Sie wollte gar nicht allzu genau über ihr Vorhaben nachdenken. Im Grunde wusste sie selbst nicht so recht, was sie eigentlich vorhatte.
Wie immer war das Terminal drei am Flughafen Heathrow völlig überfüllt. Das schien wirklich ein Dauerzustand zu sein, egal, ob es gerade mitten in der Nacht war oder Weihnachten. An einem grauen Februartag herrschte dort ebenso viel Betrieb wie an einem sonnigen Junitag. Es spielte auch keine Rolle, ob die Wirtschaft boomte oder kriselte, ob die Leute trauerten oder feierten – auf Reisen gingen sie immer. An den Schaltern zum Einchecken standen lange Schlangen: Familien mit zu vielen Taschen, kleine Kinder, die mit fiebrigen Wangen auf riesigen Koffern saßen und sich nicht trösten ließen, einzelne Reisende, die frisch und entspannt wirkten. Eine zierliche Farbige schob langsam eine Reinigungsmaschine über den Boden und konzentrierte sich dabei so auf ihre Aufgabe, dass sie die vorwärts drängenden Menschenschlangen gar nicht zu bemerken schien – nicht einmal die gereizt dreinblickenden Männer mit den dicken Bäuchen, über denen die Hemden spannten.
Frieda studierte die Tafel mit den Abflugzeiten. Der Flug ging in zweieinhalb Stunden. Der Check-in war noch nicht offen, auch wenn vor dem betreffenden Schalter bereits etliche
Leute anstanden. Frieda marschierte zu dem Kiosk hinüber, an dem es Kaffee und Gebäck gab, kaufte sich eine Portion dickes, cremiges Porridge und ließ sich damit auf einer Bank nieder, von der sie einen guten Blick hatte.
Sandy war spät dran. Sie war nie mit ihm verreist, schätzte ihn aber als einen von denen ein, die stets auf den letzten Drücker kamen, ohne dabei jedoch gehetzt zu wirken. Für jemanden, der das Land auf unbestimmte Zeit verließ, hatte er nicht viel Gepäck dabei – oder vielleicht alle seine Sachen schon per Schiff in die Staaten transportieren lassen: all seine schönen Klamotten, die medizinischen Fachbücher, die schweren Bratpfannen mit den massiven Böden, seine Tennis- und Squashschläger und die Bilder, die seine Wände geziert hatten. Jedenfalls trat er mit nur zwei bescheidenen Reisetaschen und seiner Laptop-Tasche über der Schulter an den Schalter. Er trug eine schwarze Jeans und eine Jacke, an die Frieda sich nicht erinnern konnte. Vielleicht hatte er sie sich ja speziell für diese Reise angeschafft. Sein Gesicht wirkte unrasiert und schmäler als bei ihrer letzten Begegnung. Er machte einen müden,
Weitere Kostenlose Bücher