Blauer Montag
verleihen einem eine Form von Freiheit«, erklärte Frieda. »Persönlichen Freiraum. Das ist gut. Jeder
braucht solche Geheimnisse. Andere Geheimnisse können düster und bedrückend sein, wie ein gruseliger, feuchter Keller, in den man sich nie hinunterwagt, von dem man aber immer weiß, dass er da ist: voller hässlicher Kreaturen, die unter der Erde hausen, und voller Albträume. Das sind die Geheimnisse, denen man sich stellen sollte. Es ist wichtig, dass man sie beleuchtet und sich genau ansieht, was hinter ihnen steckt.«
Während Frieda das sagte, musste sie an all die Geheimnisse denken, die ihr im Lauf der Jahre anvertraut worden waren, all jene verbotenen Gedanken, Wünsche und Ängste, die ihr die Leute zur sicheren Aufbewahrung übergaben. Reuben hatte sich dadurch irgendwann vergiftet gefühlt, während Frieda es schon immer als eine Art Privileg betrachtete, dass die Menschen sie einen Blick auf ihre Ängste werfen ließen und ihr gestatteten, das Licht zu sein, mit dem sie diese beleuchteten.
»Ich weiß nicht«, entgegnete Alan. »Vielleicht gibt es auch Dinge, die man besser ruhen lässt.«
»Um was genau zu verhindern?«
»Um zu verhindern, dass man sich über Sachen aufregt, die man ohnehin nicht ändern kann.«
»Könnte es sein, dass Sie vielleicht deswegen hier bei mir sitzen, weil es zu viele Dinge gibt, mit denen Sie sich nicht auseinandergesetzt haben? Sodass sich in Ihrem Inneren eine große Spannung aufgebaut hat?«
»Keine Ahnung. Zu Hause haben wir nie darüber gesprochen«, entgegnete Alan. »Irgendwie wusste ich instinktiv, dass das Thema tabu war. Sie wollte, dass ich sie als meine richtige Mutter ansah.«
»Ist Ihnen das gelungen?«
»Sie war meine Mutter. Mum und Dad, etwas anderes kannte ich nicht. Die andere Frau hat nichts mit mir zu tun.«
»Sie kannten Ihre leibliche Mutter nicht?«
»Nein.«
»Sie haben keinerlei Erinnerung an sie?«
»Nicht die geringste.«
»Wissen Sie, wer sie war?«
»Nein.«
»Und Sie wollten es auch nie wissen?«
»Selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte es mir nichts genützt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Niemand hat gewusst, wer sie war.«
»Das verstehe ich nicht. So etwas kann man doch herausfinden, Alan. Das geht sogar relativ einfach.«
»In meinem Fall nicht. Dafür hat sie schon gesorgt.«
»Wie denn?«
»Sie hat mich ausgesetzt. In einem kleinen Park neben einer Wohnsiedlung in Hoxton. Der Zeitungsjunge hat mich gefunden. Es war Winter und sehr kalt, und ich war nur in ein Handtuch gewickelt.« Er sah Frieda an. »Wie in einem Märchen. Mit dem Unterschied, dass es in meinem Fall real war. Warum also sollte mir etwas an ihr liegen?«
»Was für ein schwieriger Start ins Leben«, bemerkte Frieda.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, also spielt es für mich keine Rolle. Es ist nur eine Geschichte.«
»Eine Geschichte über Sie.«
»Ich habe diese Frau nicht gekannt und sie mich auch nicht. Sie hat für mich keinen Namen, keine Stimme, kein Gesicht. Und sie kennt auch meinen Namen nicht.«
»Es ist ziemlich schwierig für eine Frau, Schwangerschaft und Geburt zu überstehen und das Baby dann auch noch auszusetzen, ohne dass ihr jemals ein Mensch auf die Schliche kommt«, stellte Frieda fest.
»Ihr ist es gelungen.«
»Demnach waren Sie ganz klein, als Ihre Eltern Sie adoptiert haben. Sie erinnern sich an nichts anderes?«
»So ist es. Deshalb hat es auch nichts mit meinen momentanen Problemen zu tun.«
»Wie beispielsweise Ihrem Kinderwunsch. Denken Sie daran, wie Sie reagiert haben, als wir auf die Möglichkeit einer Adoption zu sprechen gekommen sind.«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Ich will kein Kind adoptieren. Ich möchte mein eigenes, nicht das von jemand anderem.«
Frieda musterte ihn eindringlich. Ein paar Sekunden lang erwiderte er ihren Blick, dann senkte er wie ein kleiner Junge, der beim Lügen ertappt worden war, den Kopf.
»Unsere Zeit ist um. Wir sehen uns am Donnerstag. Ich möchte, dass Sie bis dahin über das alles nachdenken.«
Sie standen beide auf. Wieder bewegte er auf diese für ihn typische, hilflos-traurige Art langsam den Kopf hin und her, als versuchte er ihn dadurch wieder klar zu bekommen.
»Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte«, sagte er. »Ich bin dafür einfach nicht geschaffen.«
»Wir gehen immer nur einen Schritt.«
»Durch die Dunkelheit.« Alans Worte trafen Frieda so unerwartet, dass sie nur nicken konnte.
Als Frieda nach Hause kam, fand sie auf ihrer
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