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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N French
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Berichte über angebliche Sichtungen wurden immer weniger. Nun stand er etwas abseits an der Wand und betrachtete das Paar im Scheinwerferlicht. Die Gesichter der beiden hatten sich seit Matthews Verschwinden sehr verändert. Tag für Tag hatte er miterlebt, wie der Kummer neue Falten in ihre Züge grub, ihre Haut erschlaffen ließ und den Glanz ihrer Augen dämpfte. Alec Faradays Gesicht war infolge des Überfalls immer noch geschwollen und blau, und seine Bewegungen wirkten wegen der Rippenbrüche sehr steif. Beide sahen extrem schmal und mitgenommen aus, und der Mutter versagte beinahe die Stimme, als sie von ihrem Liebling sprach. Trotzdem brachten sie die Sache recht gut über die Bühne. Sie gaben die üblichen herzerweichenden Dinge von sich. Sie baten die Welt im Allgemeinen um Mithilfe bei der Suche und den Entführer im Speziellen um die Herausgabe ihres geliebten Jungen.
    Natürlich war es eine sinnlose Aktion. Für gewöhnlich dienten diese Shows in erster Linie dem Zweck, die Eltern unter Druck zu setzen und bei der Gelegenheit vielleicht herauszufinden, ob sie selbst die Schuldigen waren. In diesem Fall aber war allen klar, dass die Faradays es nicht gewesen sein konnten.
Selbst die Zeitungen, für die der Vater zunächst der Hauptverdächtige gewesen war, hatten eine kühne Kehrtwendung hingelegt und einen leidenden Heiligen aus ihm gemacht. Während der fraglichen Zeit hatte er in der Buchhaltungsfirma, für die er arbeitete, ein Kundengespräch geführt, was Dutzende von Zeugen belegen konnten. Die Mutter, eine Sprechstundenhilfe, war währenddessen von ihrer Arbeitsstelle zur Schule gerast, um ihren Sohn möglichst pünktlich abzuholen. Die Vorstellung, der Kerl, der sich Matthew geschnappt hatte, könnte plötzlich ein Einsehen haben, wenn er ihren Appell hörte und ihre von Angst gezeichneten Gesichter sah, war natürlich absurd – nicht zuletzt deswegen, weil der Junge mit ziemlicher Sicherheit tot war, und zwar vermutlich schon seit geraumer Zeit. Es blieb also der Welt überlassen, auf die Worte der Eltern zu reagieren, und dass sie reagieren würde, stand fest. Die Flut aus Fehlinformationen und falschen Hoffnungen, die zum Glück allmählich verebbt war, würde erneut mit voller Wucht über sie hereinbrechen.
    An diesem Abend machte er Überstunden. Er starrte lange Zeit auf die Fotos, die den Jungen und den Ort seines Verschwindens zeigten. Dann betrachtete er eine Weile den großen Stadtplan, der in der Einsatzzentrale an der Wand hing, versehen mit unzähligen Nadeln und Fähnchen. Schließlich wandte er sich wieder den Zeugenaussagen zu. Sein Schädel brummte, und seine Brust schmerzte.
     
    Er starrte den anderen Jungen an, und der starrte zurück. Es war Simon. Er streckte eine Hand nach Simon aus, um herauszufinden, ob er freundlich reagieren würde. Im selben Moment streckte auch Simon die Hand aus, lächelte dabei aber nicht. Er war sehr dünn und sehr weiß. An den Schultern und den Hüften standen seine Knochen hervor, und sein Pipimann sah aus wie eine kleine rosa Schlange. Als er einen Schritt auf Simon zuging, kam der ihm einen Schritt entgegen. Es war eine
ruckartige kleine Bewegung, wie Marionetten sie machten, und dann ließ Simon sich auch wie eine Marionette zu Boden sinken. Matthew tat es ihm gleich. Wieder starrten sie einander an. Matthew hob einen Finger an das magere Gesicht des Jungen – ein Koboldgesicht mit eingefallenen Wangen, tiefen Augenhöhlen und einem bandagierten Mund. Er berührte den kalten, fleckigen Spiegel und beobachtete, wie dort, wo er seinen Finger liegen hatte, Tränen über die Haut kullerten. Auf einmal spürte er hinter sich Hände, die nach ihm griffen. Er hörte leise Worte und fühlte, wie Atem über seine Haut strich. »Du wirst unser kleiner Junge sein«, sagte die Stimme. »Aber pass auf, dass du nicht unser unartiger kleiner Junge bist. Wir mögen nämlich keine unartigen kleinen Jungen.«
     
    Als Frieda ihm die Tür öffnete, stand Karlsson schon knapp an der Schwelle, als hätte sie ihn erwartet, und in gewisser Weise hatte sie das auch. Sie wusste, dass die Sache mit Matthew Faraday noch nicht ausgestanden war.
    »Kommen Sie herein«, sagte sie.
    Sie traten ins Wohnzimmer, wo im Kamin ein Feuer brannte und ein Stapel von Fachzeitschriften auf der Armlehne von Friedas Sessel lag.
    »Störe ich?«
    »Nicht besonders. Nehmen Sie Platz.« Karlsson stellte die Ledertasche, die er über der Schulter getragen hatte, auf den Boden und zog

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