Blauer Montag
schienen. Sie erinnerte Frieda an ein verwundetes Tier, allerdings eines, das sich nicht zur Wehr setzte, sondern sich möglichst klein zusammenrollte oder die Flucht ergriff. Eine Weile herrschte zwischen ihnen Schweigen. Sasha spielte nervös mit ihren Händen herum. Frieda, die ihr ansah, wie sehr sie nach einer Zigarette lechzte, war fast schon versucht, sie eine rauchen zu lassen.
»Mein Freund Barney hat einen Freund namens Mick, der sagt, dass Sie sehr gut sind. Und dass ich Ihnen vertrauen kann.«
»Sie können mir alles sagen. Was Sie wollen.«
»Gut.« Sasha flüsterte das so leise, dass Frieda sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
»Wenn ich richtig informiert bin, waren Sie schon bei einem anderen Therapeuten.«
»Ja. Er hieß James Rundell. Ich glaube, er ist ziemlich berühmt.«
»Stimmt«, bestätigte Frieda. »Ich habe von ihm gehört. Wie lange waren Sie bei ihm?«
»Ungefähr sechs Monate. Vielleicht ein bisschen länger. Als ich mit der Therapie anfing, hatte ich gerade erst meine jetzige Stelle angetreten.« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und ließ es dann wieder nach vorne fallen. »Ich bin Wissenschaftlerin, Genetikerin. Ich mag meine Arbeit und habe nette Freunde, aber irgendwie steckte ich zu der Zeit in einem Loch, aus dem ich nicht mehr herauskam.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die ihre Schönheit nur noch mehr unterstrich. »Unglückliche Beziehungen, Sie wissen schon. Ich habe mich ein bisschen verarschen lassen.«
»Aus welchem Grund sind Sie hier?«
Sie schwieg eine ganze Weile.
»Das ist schwierig«, antwortete sie schließlich. »Ich weiß nicht so recht, wie ich es sagen soll.«
Plötzlich hatte Frieda das Gefühl, genau zu wissen, was gleich kommen würde. Sie musste daran denken, wie es sich anfühlte, wenn man unten in der U-Bahn am Gleis stand und den Zug kommen spürte. Noch bevor man etwas hörte oder das Licht am Zug ausmachte, spürte man einen warmen Lufthauch auf dem Gesicht oder sah ein Stück Papier hochflattern. Frieda war klar, was Sasha sagen würde. Da tat sie etwas, das sie, soweit sie sich erinnern konnte, noch während keiner Therapiesitzung getan hatte: Sie stand auf, ging zu Sasha hinüber und legte der jungen Frau eine Hand auf die Schulter.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. Dann nahm sie wieder Platz. »Sie können hier alles aussprechen. Egal, was.«
Im Anschluss an die fünfzig Minuten Therapie vereinbarte Frieda eine weitere Sitzung mit Sasha. Nachdem die junge Frau gegangen war, notierte sie sich ein paar Telefonnummern und eine Mailadresse. Anschließend saß sie mehrere Minuten schweigend da. Dann führte sie ein Telefongespräch und gleich darauf noch eines, das länger dauerte. Ein drittes Telefonat folgte. Als sie es beendet hatte, schlüpfte sie in eine kurze Lederjacke, verließ ihre Praxis und marschierte zur Tottenham Court Road. Sie winkte ein Taxi heran und gab eine Adresse an, die sie sich auf der Rückseite eines Umschlags notiert hatte. Das Taxi fuhr zunächst durch die Straßen nördlich der Oxford Street, dann die Bayswater Road entlang und in südlicher Richtung durch den Hyde Park. Frieda starrte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Als das Taxi hielt, wurde ihr bewusst, dass sie kaum auf ihre Umgebung geachtet hatte und daher auch keine genaue Vorstellung davon hatte, wo sie sich befand. Es handelte sich um einen Stadtteil, den sie kaum kannte. Nachdem sie den Fahrer bezahlt hatte und ausgestiegen war, stellte sie fest, dass sie vor einem kleinen, bistroähnlichen Restaurant stand, in der Straße ansonsten aber Wohnhäuser aus weißem Stuck vorherrschten. Vom Dachvorsprung des Restaurants hingen kleine Blumenkörbchen. Im Sommer aßen die Leute hier bestimmt im Freien, aber dazu war es an diesem Tag selbst für abgehärtete Londoner zu kalt.
Als Frieda hineinging, schlugen ihr ein Schwall warmer Luft und gedämpftes Stimmengewirr entgegen. In dem Restaurant standen höchstens ein Dutzend Tische. Ein Mann, der eine gestreifte Schürze umgebunden hatte, kam auf sie zu.
»Madame?«, sprach er sie an.
»Ich wollte mich hier mit jemandem treffen«, erklärte sie.
Was, wenn er nicht da war? Was, wenn sie ihn nicht erkannte?
Doch, da war er ja. Sie hatte ihn bei ein paar Konferenzen gesehen und außerdem auf Fotos, die zusammen mit einem Interview in einer Zeitschrift abgedruckt gewesen waren. Er saß in Begleitung einer Frau in der hintersten Ecke. Die beiden waren
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