Blauer Montag
Türmatte ein kleines Päckchen vor. Sofort erkannte sie auf dem Umschlag Sandys Handschrift. Sie beugte sich hinunter und hob es ganz vorsichtig auf, als könnte es bei der kleinsten Bewegung explodieren. Allerdings öffnete sie es nicht gleich, sondern nahm es mit in die Küche und machte sich erst einmal eine Tasse Tee. Während sie wartete, bis das Wasser kochte, blieb sie am Fenster stehen und blickte über ihr Spiegelbild hinweg zum klaren, kalten Nachthimmel empor.
Erst als sie mit einer Tasse Tee am Tisch saß, öffnete sie das Päckchen und nahm den Inhalt heraus: einen silbernen Armreif, einen kleinen Zeichenblock mit ein paar von ihren Skizzen, einen weichen Bleistift und fünf Haarklammern, zusammengehalten von einem schmalen braunen Haarband. Das war alles. Sie schüttelte den Umschlag, doch es fielen weder ein
Brief noch irgendein Zettel heraus. Sie betrachtete die armseligen Gegenstände auf dem Tisch. War das wirklich alles, was sie dort zurückgelassen hatte? Wie war es möglich, so wenige Spuren zu hinterlassen?
Das Telefon klingelte, und sie griff danach. Bereits in dem Moment, als sie das tat, wünschte sie, sie hätte das Band laufen lassen.
»Frieda. Du musst mir helfen. Ich bin mit meinem Latein am Ende, und dieser dämliche Idiot von ihrem Vater ist mir auch keine Hilfe.«
»Ich höre mit, nur damit du es weißt«, meldete Chloë sich zu Wort. »Auch wenn es dir lieber wäre, es gäbe mich gar nicht.«
Frieda hielt den Hörer ein Stück von ihrem Ohr weg. »Hallo?«, sagte sie. »Mit welcher von euch beiden soll ich reden ?«
»Mit mir«, antwortete Olivia schrill. Ich habe dich angerufen, weil ich mir einfach keinen Rat mehr weiß. Und wenn eine gewisse Person unhöflich genug ist, den anderen Hörer abzuheben und unser Gespräch zu belauschen, dann ist diese Person selber schuld, wenn sie Dinge zu hören bekommt, die ihr vielleicht nicht gefallen.«
»Bla, bla, bla, bla!«, johlte Chloë. »Sie will mir Hausarrest verpassen, weil ich betrunken war. Ich bin sechzehn. Mir war so übel, dass ich kotzen musste. Na und? Das ist doch keine große Sache. Sie sollte sich lieber selbst Hausarrest geben.«
»Chloë, hör zu …«
»So, wie sie mit mir redet, würde ich nicht mal mit einem Hund reden.«
»Ich auch nicht. Ich mag Hunde. Hunde schreien nicht, nörgeln nicht und tun sich auch nicht selber leid.«
»Dein Bruder hat mir gerade erklärt, so etwas gehöre eben zum Erwachsenwerden«, meldete Olivia sich wieder zu Wort und unterstrich ihren Beitrag mit einem abschließenden Schluchzer. Sie bezeichnete David immer dann als Friedas Bruder
oder Chloës Vater, wenn sie noch wütender auf ihn war als üblich. »Er sollte lieber mal versuchen, selbst erwachsen zu werden. Schließlich war er derjenige, der sich eine junge Schlampe mit gefärbtem Haar aufgerissen hat und mit ihr auf und davon ist.«
»Vorsicht, Olivia«, warnte Frieda sie in scharfem Tonfall.
»Wenn du mir Hausarrest verpasst, gehe ich und bleibe bei ihm!«
»Das wäre wunderbar, aber wie kommst du auf die Idee, dass er dich haben will? Er hat dich verlassen, oder etwa nicht?«
»Ihr beide müsst mit diesem Unsinn sofort aufhören«, ermahnte Frieda sie.
»Er hat nicht mich verlassen, sondern dich . Was ich ihm nicht verdenken kann.«
»Ich lege jetzt auf«, verkündete Frieda sehr laut und setzte ihre Drohung umgehend in die Tat um.
Sie stand auf, schenkte sich ein kleines Glas Weißwein ein und setzte sich wieder. Sie betrachtete erneut die Sachen, die Sandy ihr zurückgeschickt hatte, und drehte nachdenklich eine der Haarklammern zwischen den Fingern hin und her. Das Telefon klingelte erneut.
»Hallo«, meldete Olivia sich kleinlaut.
»Hallo.« Frieda wartete.
»Ich habe die Lage gar nicht gut im Griff.«
Frieda nahm einen Schluck Wein. Sie dachte an ihre Badewanne, ihr Buch, das bereits vorbereitete Feuer und die Dinge, über die sie nachdenken wollte. Draußen war Winter, und ein kalter Wind blies durch die dunklen Straßen. »Soll ich vorbeischauen ?«, fragte sie. »Das wäre nämlich kein Problem.«
23
A m nächsten Nachmittag berief Karlsson eine Pressekonferenz ein, bei der die Faradays einer Reihe Fotografen und Journalisten gegenübersaßen, um an den Entführer zu appellieren, ihren Sohn herauszugeben, und gleichzeitig das öffentliche Interesse neu zu wecken.
Karlsson hatte den Vormittag damit verbracht, Hunderte von sogenannten Zeugenaussagen durchzugehen, die sein Team aufgenommen hatte. Die
Weitere Kostenlose Bücher