Blaues Gift - Almstädt, E: Blaues Gift
sie aus dem Auto stieg, sah sie eine Ratte, die quer über die Straße in Richtung Wasser huschte. Vielleicht hatte sie dort unten an der Böschung irgendwo ihr Nest. Lauter winzige, kleine Ratten, hervorragend angepasst an das Leben in der Stadt.
Nach dem Besuch bei ihrem Bruder freute sich Pia auf ihre eigenen vier Wände. Die Aussicht auf eine selbst gemixte Bloody Mary erschien ihr verlockend. Und sie konnte sich danach einfach auf ihr Bett fallen lassen, ohne wie Tom auf einen Anruf oder auf das Geräusch der Wohnungstür zu horchen. Pia erwartete nichts und niemanden mehr.
Aus einer Kneipe an der Obertrave torkelten noch ein paar späte Gäste. Sie waren zu dritt und schienen sich gegenseitig stützen zu müssen. Pia beobachtete, wie sie in eine Seitenstraße einbogen, die zum Pferdemarkt hoch führte. Als die drei Betrunkenen aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, sah die Straße wieder leer und verlassen aus.
Zwischen den Bäumen am Fluss hatten die Anwohner Leinen gespannt.Ein paar Laken und Bezüge hingen klatschnass und reglos in der kühlen Nachtluft. Und da unten auf dem Rasen lag etwas, das im Laternenlicht wie ein paar Stiefel aussah. Merkwürdige Zustände hier am Wasser ... Doch dann registrierte Pia, dass an den Stiefeln Beine waren, die in einem dichten Gebüsch verschwanden.
Obwohl Pia der Ansicht war, schon gewisse Erfahrungen in der Grauzone zwischen Normalität und Ausnahmezustand gesammelt zu haben, merkte sie, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Ein dummer Streich, dachte sie, da liegt nichts. Ich werde mich nur kurz davon überzeugen, dass da nichts liegt ...
Sie sah sich nochmals um. Sie war tatsächlich ganz allein hier unten. Bis auf die Ratten und ... das da. Im schwarzen Wasser der Trave plätscherte es leise. Enten? Im Gebüsch rührte sich nichts. Pia ging ein Stück um das Grün herum, in Richtung Ufer.
»Hallo, hören Sie mich? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Dumme Frage. Wer legte sich hier freiwillig bei dem Sauwetter mit dem Kopf in ein Gebüsch und ließ die Füße heraushängen? Sie beugte sich hinunter und berührte ein Bein in einer derben, feuchten Hose. War es kalt, war es warm? »Hallo?«
Dann versuchte sie, die Zweige des Busches wegzuschieben, um den Rest des Körpers sehen zu können. Es war zu dunkel und der Busch zu dornig und dicht gewachsen. Sie konnte nicht viel erkennen. Pia kämpfte sich auf Knien durch die Zweige, bis sie etwas ertastete, das einem Arm ähnelte. Er fühlte sich kühl an. Ihre Hand glitt hinunter zum Handgelenk, tastete nach dem Puls ...
Etwas flatterte schwach und unregelmäßig unter der feuchten, kalten Haut. Unzweifelhaft Leben.
Sie zog ihr Mobiltelefon hervor und wählte 112. Schnell erklärte sie dem Diensthabenden auf der Rettungsleitstelle, was sie entdeckt hatte. Eine tiefe, Vertrauen erweckende Stimme versprach, binnen weniger Minuten einen Rettungswagen zu schicken.
Als Pia das Gespräch beendet hatte, überdachte sie noch einmal die Lage. Der Versuch, den Mann allein aus dem dornigen Busch hervorzuziehen, war ebenso gefährlich wie zwecklos. Wie war er hier nur hineingeraten? Rückwärts umgefallen wahrscheinlich. Sie musste möglichst nah an seinen Kopf heran, um seine Atmung zu überprüfen. Als sie nahe genug an ihn herangekrochen war, überstreckte sie den Hals des Bewusstlosen und hielt ihre Wange dicht über seinen Mund und seine Nase. Alkoholdunst schlug ihr entgegen.
Er atmete regelmäßig, aber er war sicherlich schon völlig unterkühlt. Sie wusste nicht, wie lange der Mann hier schon auf dem kalten Boden lag, noch dazu alkoholisiert.
Sie zog ihre Jacke aus, was zwischen den Ästen und dornigen Zweigen recht mühsam war, und legte sie dem Bewusstlosen über den Oberkörper.
Nachdem sie den Notruf getätigt hatte, blieb ihr nicht viel anderes zu tun übrig, als leise und beruhigend auf den Mann einzureden und von nahender Hilfe zu erzählen. Es war zweifelhaft, ob der Mann sie überhaupt wahrnahm, aber schaden konnte es nicht.
Als Pia hörte, wie sich ein Fahrzeug näherte, kroch sie hastig aus dem Busch, richtete sich auf und winkte, um auf sich aufmerksam zu machen.
Ein Rettungswagen mit Blaulicht stoppte am Straßenrand, und zwei Sanitäter in orangefarbenen Jacken mit Leuchtstreifen auf den Ärmeln sprangen aus dem Wagen. Pia zeigte ihnen, wo sich der Bewusstlose befand. Die Rettungskräfte waren schnell zur Stelle gewesen und wirkten routiniert und aufeinander eingespielt. Es dauerte nicht lange, da
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