Blaues Gift - Almstädt, E: Blaues Gift
ragte die schwarz-weiß gestreifte Fassade des sakralen Monuments auf wie die Eiger Nordwand.
Überhaupt fand er dieses Mal, dass Siena nicht viel mehr war als ein Gebirge aus Steinen. Alten, dreckigen Steinen, wo die Tauben auch noch den letzten Zentimeter Schönheit mit ihrem beißenden Kot bedeckten.
Seine Frau Inge hatte sich heute Morgen geweigert, ihn hierher zu begleiten. Nach einer Meinungsverschiedenheit über den Verbleib ihrer Tochter schmollte sie in ihrem Hotel am Stadtrand.
Inge wollte einfach nicht begreifen, dass sie Marlene nicht ewig bemuttern konnte. Wenn sie das mit Clarissa tat, war das ja in Ordnung. Die Kleine konnte etwas Kontinuität und liebevolle Fürsorge sicherlich gut gebrauchen. Aber Marlene war eine erwachsene Frau. Wenn sie es vorzog, durch die Weltgeschichte zu vagabundieren, anstatt bei Mann und Kind zu bleiben, konnte er das auch nicht ändern.
» O matre pulchra filia pulchrior! «, zitierte er, von einer düsteren Vorahnung beschlichen. – Oh einer schönen Mutter schönere Tochter! – Wie kam er denn da jetzt drauf? Sollte er bei allen Sorgen und Kümmernissen, die seine lebenslustige Marlene ihm seit Jahren bereitete, auch noch seine Italienreise für sie abbrechen?
Er dachte gar nicht daran. Was würde das auch für Fragen aufwerfen. Die Nachbarn würden sich totlachen, wenn Inge und er nach zwei Tagen schon wieder nach Hause kämen. Die waren sowieso oft neidisch auf ihre Urlaubsreisen und das neue Auto. Probleme mit der Tochter der Brinkmanns kämen denen gerade recht, um die Köpfe zusammenzustecken und sich die übelsten Dinge auszudenken. Er hörte sie direkt, diese gespielte Mitleidstour, dieses hämische Frohlocken über das ungeratene Kind!
Geschieht dem hochnäsigen Herrn Brinkmann ganz recht, würden sie denken. Oberstudienrat, die Frau ebenfalls Lehrerin, aber bei dem eigenen Kind haben sie versagt. Ihre Tochter hat kein Verantwortungsbewusstsein. Wie ein äußerlich schöner Apfel, der innen faul ist ...
Nein, er würde seine Reise durchziehen bis zum letzten Tag, es sei denn, ja es sei denn, die Nachrichten über Marlene wären wider Erwarten wirklich dramatisch. Ein Unfall? Bei einem Unfall müssten sie nach Hause zurück ...
Aber das glaubte er nicht, denn Unkraut, so hieß es schließlich, Unkraut vergeht nicht, und seine Tochter war hartnäckiger als Bärenklau und genauso nützlich.
Er besichtigte pflichtschuldig den Dom, umrundete die Piazza del Campo und stieg die 503 Stufen des Torre del Mangia hoch. Dann kehrte er durstig und mit einer brennenden Blase am Fuß in sein Hotel zurück. In einer kleineren Kirche hatte er in einem schwachen Moment sogar eine Kerze für Marlene angezündet. Er war zwar evangelisch, aber er glaubte nicht, dass es vor Gott einen Unterschied machte, wenn er auf diese Weise um die Heimkehr seiner vermissten Tochter bat.
An der Rezeption des Hotels erwartete ihn der aalglatte Portier mit einer Nachricht in seinem Fach. Unwirsch riss er ihm den Umschlag aus der Hand. Inges vertraute kindliche Handschrift auf Hotelbriefpapier. Mit der Vorahnung schlechter Neuigkeiten las er sie noch am Tresen stehend.
Lieber Frieder,
ich halte die Unwissenheit hier nicht aus. Bin auf dem Weg nach Hause. Es tut mir leid.
Gruß Inge
Gruß Inge! Wütend schleuderte er das Papier zu Boden und trat darauf herum. Der Portier sah interessiert zu, brachte aber gleichzeitig die hässliche Porzellanvase, die auf dem Empfangstresen stand, vor ihm in Sicherheit.
Die Frauen haben ihren Kopf doch allesamt nur zur Zierde, dachte er erbost. Wenn Inge allein nach Hause zurückkam, dann hatten die Nachbarn ja gleich noch einen Anlass für wilde Spekulationen: Eheprobleme!
»Diskretion war Holger Michaelis’ zweiter Vorname«, stöhnte Michael Gerlach, der gerade die Ergebnisse seiner Befragungen vorgetragen hatte. »In seiner Praxis herrscht unter den angestellten Damen die einhellige Meinung, dass Holger Michaelis immer mal die eine oder andere Freundin nebenher hatte, aber niemand konnte Namen nennen oder konkretere Hinweise geben. Wir haben sein Adressbuch durchforstet, seine Telefonanrufe kontrolliert, aber wir wissen nicht, mit wem er sich tatsächlich getroffen hat.«
»In seinem Jachtclub ist es das Gleiche«, kommentierte Conrad Wohlert, der ebenfalls dem Ermittlungsteam angehörte, »alle sagen: Der hatte was laufen, aber niemand wollte mit mehr herausrücken. Sie wollten oder sie konnten nicht. Jedenfalls ist alles, was ich
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