Blaues Gift - Almstädt, E: Blaues Gift
begangen zu haben. Wunderbar! Sie stellte die Teller und Töpfe zurück in die Schränke und goss sich dann den Wein aus der angebrochenen Flasche in ein Becherglas. Sie vertrug Wein nicht besonders gut, aber was machte das schon? Den Abend würde sie in selbstgewählter Isolation verbringen. Der Wein machte sie müde, was von Vorteil war.
Hinnerk Joost ... was störte sie nur so sehr daran, dass er Moritz Barkaus Mitbewohner war?
Als sie wieder aufwachte, lag Pia auf ihrem Sofa. Das Glas, das sie auf dem Fußboden abgestellt hatte, war umgefallen, und der Rest Wein war in die breiten Ritzen zwischen die Bodendielen gelaufen. Die angetrocknete rote Flüssigkeit erinnerte sie an Blut ... und wieder an Clarissas durchdringendes Schreien im Kindergarten, das selbst durch das Telefon beängstigend geklungen hatte.
Ein Tintenfleck auf einem Sommerkleidchen, war es wirklich nur das gewesen? Oder hatte dieser Fleck, obwohl er dunkelblau war, Clarissa an einen anderen Fleck erinnert, den sie vielleicht ebenfalls vor kurzem gesehen hatte? Der Zusammenhang mit dem Verschwinden ihrer Mutter lag auf der Hand. Hatte Clarissa Marlenes Blut irgendwo gesehen? In der Wohnung? Hatte Tom seine Frau am Freitag tatsächlich zum Flughafen gefahren, oder war in der Nacht von Donnerstag auf Freitag etwas Entscheidendes passiert?
Pia setzte sich leise stöhnend auf und rieb sich die kalt gewordenen Arme. War Clarissa ebenso schlaftrunken, wie sie es jetzt war, aus ihrem Kinderzimmer gewankt und hatte eine Szene mitbekommen, die sie nie hätte sehen dürfen?
Er war ihr Bruder, Tom, den sie seit Ewigkeiten kannte. Wie konnte sie ihn verdächtigen, mit Marlenes Verschwinden etwas zu tun zu haben? Sie traute ihm keinen Vorsatz zu, keine Heimtücke, aber wenn Marlene ihn provoziert hatte, gereizt, verhöhnt?
Szenen aus ihrer Kindheit erschienen ungebeten vor Pias innerem Auge. Tom, wie er wutentbrannt mit Fäusten auf sie einschlug, während sie – lächelnd? – auf seinem Bett saß und seine Matchbox-Autos vor ihm verbarg. Tom, wie er ihr ein blaues Auge geschlagen hatte, weil sie ihn einen Feigling genannt hatte, als er nicht über den Graben hinter dem Haus springen wollte ...
Aber was sagte das schon? Er war damals ein Kind gewesen. Tom hatte nicht oft Wutanfälle bekommen, aber wenn, dann waren sie heftig gewesen. Nele, ihrer beider Schwester, hatte beim kleinsten Anlass gekreischt und gezetert. Er hingegen hatte immer viel hingenommen, bis er sich in eine bodenlose Wut hineingesteigert hatte. Seine Ausbrüche waren kurz, aber umso heftiger gewesen. Hinterher hatte es Tom dann fast immer leid getan.
Doch diese alten Geschichten bedeuteten nichts. Kinder bekamen Wutanfälle, verloren die Kontrolle über sich. Die einen mehr, die anderen weniger, je nach Veranlagung. Die einen mehr ...
War Tom von seiner Veranlagung her so jähzornig, dass er die Kontrolle über sein Handeln verloren hatte? Hatte Marlene eine Kurzschlusshandlung ausgelöst?
Pia wankte hinüber zum Fenster, das seit dem Betreten der Wohnung weit offen stand, und schloss es nachdrücklich. Sie warf einen Blick hinaus und erschrak über die Geschwindigkeit, mit der die Wolken über den Nachthimmel jagten. Der Wind hatte aufgefrischt. Obwohl der Mai schon weit fortgeschritten war, war noch keine stabile Wetterlage in Sicht. Wenn es nicht langsam schöner wurde, dann würde dieser Frühsommer wohl ins Wasser fallen.
Es war bereits halb zwei. Wenn sie morgen fit sein wollte, musste sie jetzt dringend ins Bett. Das Einzige, was sie in der derzeitigen Situation für ihren Bruder tun konnte, war, die Ermittlungen weiterhin zu verfolgen und aufzupassen, dass alle Möglichkeiten in Betracht gezogen wurden. Und das bedeutete, dass sie sich an Gablers Spielregeln halten musste.
14. Kapitel
M arlene Liebig ist nie abgeflogen«, berichtete Rainer Schneekluth mit einer gewissen Befriedigung in der Stimme.
Auf Gablers Betreiben hin hatten sie sich zu einer gemeinsamen Besprechung zusammengefunden. Die Leute vom K11, die mit dem Fall Liebig betraut waren, sowie Gablers Team, das mit dem Fall Holger Michaelis befasst war.
Pia war ebenfalls anwesend, Gabler hatte sie jedoch im Vorfelde instruiert, sich zurückzuhalten. Sie solle natürlich alle Informationen ihre Schwägerin betreffend erhalten, ansonsten jedoch von diesem Zeitpunkt an nur noch im Team aktiv werden.
Es fiel Pia schwer, aber da sie in jedem Fall dabei sein wollte, musste sie sich an Gablers Anweisungen
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