Blaufeuer
Nordfriese mit gewaltigen Händen.
Janne setzt ihre Sonnenbrille auf. Sie fühlt sich seekrank.
Er inspiziert die Meeresfrüchte eingehend. »Noch längst nicht marktreif. Bodenkultivierung macht zwar wenig Arbeit, ist aberimmer ein Risiko. Dazu die starken Strömungen in der Elbmündung und der schwankende Salzgehalt. Hoffnungslos. Da habt ihr euch echt keinen Gefallen mit getan.«
»Wir verstehen eben mehr von Booten«, murmelt Janne.
»Na, hoffentlich.« Er lacht und klatscht in die Hände. »Also los, Jungs, dann wollen wir mal.«
Die Männer sind zu dritt, und sie arbeiten zügig, wie es der Rhythmus der Tiden verlangt. Janne wartet im Wagen. Bei Niedrigwasser sind die Austern eingesammelt und verladen. Sie steigt wieder aus und bittet die Sylter, auch die Bojen abzumontieren, da diese nun nicht mehr gebraucht werden. Die Seezeichen sollten Boote am Überfahren der Zuchtbänke hindern, um Verschmutzungen gering zu halten.
»Eigentlich habt ihr Glück, dass es überhaupt so lange gut gegangen ist«, sagt der Juniorchef.
»Ja, wir sind echte Glückspilze, das liegt in der Familie«, entgegnet Janne und wendet sich ab.
Friesen gelten normalerweise als schweigsam. Sie ist an ein Ausnahmeexemplar geraten. Um weiteren Ausführungen über die Geheimnisse der Austernzucht zu entgehen, fährt Janne nicht mit zurück an Land. Es kostet sie einige Mühe, den Sylter mit den großen Händen dazu zu bringen, sie zurückzulassen, aber am Ende ist ihm seine kostbare Fracht wichtiger als das Wohlergehen einer Frau, die er sicher für mehr als eigenartig hält.
Nachdem sich der Lieferwagen entfernt hat, wird es still. Friedhofsstille. Kein Wind regt sich, es ist, als würde die See innehalten, um Jannes Schmerz Respekt zu zollen. Seit Erik tot ist, hat sie den Wunsch verspürt hierherzukommen und es doch nie gewagt. Ein versprengter Haufen roter Ziegelreste im graubraunen Schlick, mehr erinnert nicht an die Muschelbank. Einen hübschen Nebenerwerb hat sich Paul Flecker davon versprochen undeinen Prestigegewinn für das Unternehmen. Nichts ist daraus erwachsen. Nur ein bizarrer Ort zum Sterben.
Die Tageszeit muss ähnlich gewesen sein, kurz vor Sonnenuntergang, aber das Licht war sicher ein anderes. Gnädiger, nicht so gleißend und kalt. Neuwerk und dahinter die unbewohnte Insel Scharhörn sind scharf umrissen, ebenso die Frachter im nahen Elbfahrwasser. Ein Schleier aus Pastelltönen muss all das umschmeichelt haben, als er um sein Leben rang. Janne schließt die Augen. Die Bilder bringen den von Wellen und Strömungen modellierten Meeresgrund, auf dem sie steht, zum Wanken, schnüren ihr den Hals zu. Hier ist sein Blut geflossen, ohne Spuren zu hinterlassen. Schlieren im Meer. Sie keucht. Ein Schrei zerreißt die Stille, es ist Eriks Stimme, kein Zweifel.
Sie hört ihren Bruder schreien.
Wenn das Böse als Verdichtung unheilvoller Energie tatsächlich existiert, dann hat es an dieser Stelle eine neue Heimat gefunden. Janne reißt die Augen auf und schreit dagegen an.
Sie hat die Zeit vergessen. Als sie sich endlich auf den Weg zurück an Land macht, hat das auflaufende Wasser die Priele gefüllt. Sie wird mehr als nur nasse Füße bekommen. Es geht ein leichter, eiskalter Wind. »Verfluchtes Watt.«
Sie beginnt zu laufen. Bei der Querung des ersten Priels geht ihr das graubraune Wasser bereits bis zu den Hüften und die Strömung reißt sie beinahe um. Beim nächsten macht sie kehrt. Sie müsste schwimmen, um ans andere Ufer zu gelangen, und eine so gute Schwimmerin ist sie nie gewesen. Janne zerrt das Handy hervor. Es ist in der Jackentasche trocken geblieben, doch es hat keinen Empfang.
»Großartig.«
Ohne Hilfe wird sie es nicht bis an Land schaffen. Die Flutkommt, ein Großteil des Watts ist nun von Wasser bedeckt. Peinlich. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Als sie sich umschaut, entdeckt sie ein Boot im Elbfahrwasser, das direkt auf sie zuhält. Sie ruft, winkt mit rudernden Armen und rennt der Rettung entgegen. Nacheinander verliert sie beide Gummistiefel samt Strümpfen im Schlick. Austernsplitter bohren sich in ihre Fersen. Janne stöhnt auf, aber langsamer wird sie nicht. Es ist ein motorisiertes Schlauchboot, ideal für flaches Wasser. Der Mann am Ruder winkt ihr zu. Es ist Birger Harms. Die letzten Meter muss sie watend zurücklegen, dann zieht er sie ins Boot.
»Bist du lebensmüde?«, herrscht er sie an und starrt auf ihre nackten Füße. Er hat Decken und eine Flasche Rum dabei.
Janne
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