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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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die Bomber kamen, drängten die Menschen in die Keller, sie mittendrin, irgendwo in der Nähe des Bahnhofs. Ein Pferch unter der Erde. Niemals hat er diese Enge verwunden, die Hitze, den Gestank nach Schweiß, Mörtel und schwelendem Feuer. Alle waren still,kein Geschrei, kein Jammern. Viele beteten. Die Detonationen und das Pfeifen der Bomben faszinierten ihn, den Fünfjährigen, anfangs sogar. Erst als der Angriff Stunden anhielt, wurde ihm übel. Weil er sich so oft übergeben musste und seine Mutter auch in höchster Not darauf bedacht war, niemandem zur Last zu fallen und ja keinen Unmut zu erregen, verließen sie den Keller kurz vor dem Einsturz. Sie sahen, wie das Gebäude brennend in sich zusammenfiel, dann rannten sie durch das Inferno, über glühendes Pflaster bis zur Elbe, und der Feuersturm verschonte sie.
    Später hat er es stets als Glück empfunden, an der Mündung des Flusses zu leben, dem er sein Leben verdankt. Nur auf Hedwig konnte er, der Mann in der Familie, nicht aufpassen. Sie starb im Morgengrauen unter den Trümmern einer einstürzenden Mauer. Eine andere Mutter mit einem lebenden Kind zerrte ihr das Lodenmäntelchen vom Leib, das Hedwig selbst Tage zuvor auf ähnliche Weise geerbt hatte. Es gab keine Beerdigung, die Leichen wurden zusammengetragen, aufgeschichtet und verbrannt. Auch für seinen Vater, Paul Flecker senior, wurde nie eine Trauerfeier abgehalten. Er gilt noch immer als verschollen an der Ostfront, seine Spuren verlieren sich in der Gegend von Bialystok. Weihnachten 1944 kam der letzte Feldpostbrief...
    Jetzt könnte er doch etwas Mitleid vertragen. Er glaubt, dass der Krieg für viele Angehörige seiner Generation niemals wirklich zu Ende gegangen ist. Nie haben sie aufgehört, Lebensmittel zu horten oder bei Donnerschlägen zusammenzufahren, weil sie den Geschützdonner der Front wiedererkennen. Beim Kotelett und beim Schinken essen sie das Fett immer mit. Sie bewahren jeden Mist auf: Zellophanpapier, Garnreste, rostige Nägel. Wenn sie über ein freies Feld gehen, suchen sie unwillkürlich den Himmel nach Tieffliegern ab, und manchmal bricht ihnen in niedrigen Kellern der Schweiß aus. Natürlich reden sie nicht darüber, um die Jugend vor Schaden zu bewahren. Trotzdem wünschte erhin und wieder, die Jüngeren, besonders seine Kinder, würden diese Dinge verstehen. Dann hätten sie ihren Spott für sich behalten, als er Ende der achtziger Jahre für die Fleckers ein teures Familiengrab kaufte und seine Mutter vom alten Friedhof dorthin umbetten ließ. Und sie hätten ein Empfinden dafür, wie gut es das Schicksal bislang mit ihnen gemeint hat. Andererseits sagt er sich, dass eine neue Zeit angebrochen ist - sollen sie doch verwöhnt durchs Leben schreiten. Es sind drei prächtige Kinder. Viel zu schnell werden sie groß.
    Eine Frau geht am Strand entlang, jung und bezaubernd schön. Er weiß, dass er sie kennt, gut sogar. Sie ist außer sich vor Wut. Dicht vor ihm bleibt sie stehen, und ihre schmale Gestalt wirft einen langen Schatten über ihn. Paul Flecker, der Gestrandete, geniert sich, und tatsächlich ekelt sie sich vor ihm. Sie ist der Meinung, er habe Schmerzen verdient.
    »Du solltest dich schämen«, sagt sie.
    Und wie er sich schämt. Vor ihr.

Pauls Frauen
    JANNE
    Die Fahrstuhltüren schließen sich. Ein kunstlederner weißer Halbschuh, der Janne in seiner Schäbigkeit vertraut ist, schiebt sich im letzten Moment dazwischen, und die Türen öffnen sich wieder. Schwester Marit betritt die Kabine, außer Atem vom Laufen.
    Janne nickt ihr zu. »Das war knapp. Auch ins Erdgeschoss?«
    »Ja, ich habe Feierabend.«
    Die Intensivstation liegt im vierten Stock, und der Fahrstuhl ist langsam. Marit riecht nach Schweiß, was bei ihrem Arbeitspensum nicht erstaunlich ist, Janne aber trotzdem stört.
    »Ich habe gesehen, was du eben getan hast«, sagt die Krankenschwester ruhig.
    Janne fühlt, wie sich ihr Magen krampfartig zusammenzieht. »Was meinst du damit?«, fragt sie, obwohl sie es genau weiß.
    »Gehen wir zusammen etwas trinken?«
    »Nein, ich muss nach Hause. Es ist spät.«
    Sie erreichen das Erdgeschoss. Janne eilt durch das verwaiste Krankenhausfoyer. Der Kiosk, der Zeitungen und Süßwaren verkauft, ist seit Stunden geschlossen, die Patienten liegen in ihren Betten. Marit heftet sich an ihre Fersen.
    »Hör mal, nur weil wir zusammen Kaffee getrunken haben, sind wir nicht befreundet oder so«, sagt Janne. »Habe ich das behauptet?«
    Sie passieren den

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