Blaufeuer
fündig. Volltreffer. Hinter dem Zettel mit den Kontaktdaten der Angehörigen liegen zwei weitere mit fremden Namen: Imme Höft und Karoline Jahn, einmal Otterndor-fer, einmal Bremer Vorwahl.
Wieder summt die Tür. Janne geht in die Knie, duckt sich unter den Schreibtisch beim Empfangstresen. Sie hält den Atem an. Die Schritte eines Einzelnen. Jemand, der im Eingangsbereich stehen bleibt. Sie sollte anfangen, sich eine plausible Erklärung für ihre Anwesenheit zu überlegen. Vielleicht könnte sie eine Ohnmacht vortäuschen. Oder sie wird wirklich ohnmächtig, wenn sie sich nicht bald traut, weiterzuatmen.
»Hey, was machst du denn hier oben? Willst du was Bestimmtes?«
Eine weibliche Stimme schallt über den Gang, eine männliche antwortet.
»10-Minuten-Pause. Wollte mal sehen, ob Marit heute Nacht arbeitet.«
Die Frau lacht. »Nein, da muss ich dich enttäuschen. Die hat diese Woche Spätschicht, ist schon gegangen. Ich sag ihr, dass du nach ihr gefragt hast.«
»Muss nicht sein.«
Der Mann entfernt sich, und Janne schnappt nach Luft. Interessant. Marit hat also einen heimlichen Verehrer. Die Zettel in ihren Händen sind zerknüllt. Sie würde sie liebend gern mitnehmen und sich gleich aus dem Staub machen, aber sie zwingt sich, die Namen und Nummern sorgfältig zu notieren und alles wieder an seinen Platz zu legen. Unbeobachtet flieht sie aus der Station. Unten im Foyer begegnet sie dem Neurologen, der ihren Vater behandelt hat. Er nickt ihr abwesend zu. Janne grüßt zurück, einen Tick zu fröhlich und zu laut für Uhrzeit und Anlass, sodass ein Schatten der Verwunderung über sein Gesicht huscht.
Draußen schlägt ihr Regen ins Gesicht, und sie lacht auf, aus Freude und Erstaunen über den gelungenen Coup und die eigene Courage. Wäre ihr Vater nicht schwerkrank und der Anlass weniger ernst, würde sie behaupten, sie habe Spaß gehabt. Wie eine Pennälerin beim Abi-Streich. Sie ist regelrecht berauscht. Leider hält das Gefühl nicht lange vor.
Nach einer kurzen Nacht erscheint Janne früher als sonst im Büro, wo ihr ein kleinlauter Werksleiter an der Seite von Birger Harms ein rostiges Metallstück präsentiert. Birger schmunzelt.
»Was, bitte, war das gestern?«, fragt Janne.
»Ein Schiffsmotor«, antwortet der Werksleiter.
»Und wieso wäre er beinahe auf meinem Kopf gelandet?«
»So wie es aussieht, hat sich eine Winde gelöst. Poröses Material, innerlich porös, von außen nicht zu erkennen.«
»Ziemlich merkwürdig, nicht wahr?«
Der Mann schweigt verlegen. Birger räuspert sich. »Herrgott, Janne, du weißt doch, wie gefährlich es in der Halle zugehen kann, das hat dein Vater dir schon vor zwanzig Jahren erklärt. Deswegen solltest du immer einen Helm tragen.«
»Und du glaubst, ein Helm hätte gereicht?«, fragt Janne mit verächtlichem Schnauben.
»Wohl nicht«, sagt der Werksleiter. Janne wirft die beiden hinaus.
Eine Tanzlehrerin? Laut Online-Telefonbuch ist Karoline Jahn Inhaberin einer Tanzschule in Bremen. Der Internetauftritt lässt auf eine gehobene Klientel schließen. Die vornehme Dancing Queen residiert in einer weißen Jugendstilvilla an der Weser und präsentiert sich auf den Fotos, die sie meist mit jugendlichen Schülern zeigen, als Autorität: tadellose Haltung, die dunklen Haare streng zum Knoten gebunden, selten lächelnd. Schwarze Augen, denen nichts entgeht. Sporadisch bietet sie Standardkurse für Erwachsene an - und Einzelunterricht nach Vereinbarung. Janne beschließt, ihr einen Besuch abzustatten.
Gabi Bremer schüttelt missbilligend den Kopf, als sie das Büro verlässt. Janne hätte Lust, sie zu feuern, nur wegen des Kopf-schüttelns.
Die Villa steht auf einer Anhöhe am Fluss. Janne erkennt sie schon von weitem wie einen alten Freund. Es sind immer Dächer wie diese, unter denen Künste gedeihen, egal ob Malerei, klassische Musik oder eben Tanz. Biotope. Parallelwelten, in denen Zeit eine andere Bedeutung hat. Auf der Freitreppe vor dem Eingang trippelt ein Mädchen in einem rosa Tüllröckchen auf und ab. Es ist zu sehen, dass sie friert, aber sie zieht ihre Jacke nicht an, sondern trägt sie über dem Arm, damit jeder sofort die Tänzerin in ihr erblickt.
»Na, Primaballerina, ziemlich kalt heute, nicht wahr?«, sagt Janne.
Die Kleine nickt mit gesenktem Blick. Sie mag sechs oder sieben Jahre alt sein und legt dieselbe Ernsthaftigkeit an den Tag,mit der Janne einst durch die Kreismusikschule stolziert ist, unter dem Arm den
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