Blaufeuer
Violinkoffer, der bei ihr enorm groß wirkte. Sie stieg schon mit fünf von der Dreiviertelgeige für Anfänger auf die größere um. Ein Gefühl von Heimweh überkommt sie. Sehnsucht nach dem Selbstverständnis, ein hochbegabtes Kind zu sein.
»Wirst du abgeholt?«, fragt sie das Mädchen.
»Ja. Meine Mutter kommt gleich.«
Durch ein offenes Fenster perlt Klaviermusik ins Freie. Janne betritt die Eingangshalle. Ein geisterhafter Mix aus Chopin, Fla-menco und Hip-Hop schlägt ihr entgegen. Dazwischen die Anweisungen der Lehrkräfte an die Tänzer. Sie fragt sich durch. Die Schulleiterin unterrichtet klassisches Ballett im Obergeschoss. Jannes Erscheinen stört den Ablauf, aber sie darf bleiben und zusehen. Eine Meisterklasse. Die Schülerinnen, junge Frauen mit erhitzten Wangen, sind beweglich wie frisch geschnittene Birkenzweige. Karoline Jahn fordert Einsatz über die Schmerzgrenze hinaus, zum Schluss fließen Tränen. Nach dem Unterricht wechselt sie einige Worte mit dem Pianisten und kommt auf Janne zu.
»Dieser Mann treibt mich in den Wahnsinn«, sagt sie zur Begrüßung.
»Wieso? Er spielt doch sehr pointiert. Gut, er ist nicht hundertprozentig taktsicher ...«
Die Tanzlehrerin reicht ihr die Hand. »Sie sind vom Fach?« »Nicht direkt.«
Karoline Jahn hat etwas von einer Skulptur. Sie ist hübsch. Janne schätzt sie auf etwa fünfzig.
»Die Mädchen bereiten sich auf die Aufnahmeprüfung fürs Studium vor. Ein taktsicherer Pianist wäre von Vorteil.«
»Sie werden es trotzdem schaffen«, sagt Janne.
Karoline Jahn schmunzelt. »Anzunehmen. Also, was kann ich für Sie tun? Kennen wir uns?«
»Nein. Sie kennen meinen Vater. Mein Name ist Janne Flecker.«
Eigentlich wollte sie lügen, unter einem Vorwand das Gespräch suchen, aber die Autorität der Tanzlehrerin lässt das nicht zu. Karoline Jahn zeigt keinerlei Regung, als sie den Namen hört.
»Gehen wir doch in mein Büro.«
Sie eilt voraus in ein Arbeitszimmer mit antikem Schreibtisch und einer Sitzecke mit Plüschsesseln, auf denen sie Platz nehmen. Karoline Jahn hält sich so gerade, dass auch Janne unwillkürlich den Rücken streckt.
»Wie geht es Ihrem Vater?«
»Er liegt im Koma. Das wissen Sie ja.«
»Gibt es keine Verbesserung?« Die Stimme der Tanzlehrerin klingt plötzlich rau, sie muss sich räuspern, um fortfahren zu können. »Ich bin in großer Sorge.«
»Sein Zustand ist unverändert. Warum interessiert Sie das so sehr? Warum wollten Sie unbedingt benachrichtigt werden, wenn er aufwacht?«
Karoline Jahn hustet in ein Stofftaschentuch mit Spitze, dann holt sie eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser. Sie schenkt ihnen ein.
»Ich liebe Paul«, sagt sie und trinkt ihr Glas leer.
Das Geständnis kommt so überraschend, dass Janne ebenfalls trinkt, weil sie nicht weiß, was sie darauf antworten soll. Die Tanzlehrerin schenkt nach, und sie trinken weiter. Wasser ohne Kohlensäure. Jede drei Gläser.
Janne legt den Kopf in den Nacken und starrt auf den Stuck an der Decke. »Sie hatten also ein Verhältnis?«
»Nein, so kann man es nicht nennen.«
Karoline Jahn beginnt zu erzählen und holt dabei weit aus, redet über Blumen in ihrem Garten und darüber, wie entspannendGartenarbeit sein kann. Im Sommer vor zwei Jahren, als Paul Flecker in ihr Leben trat, bereiteten vor allem die Rosen Freude.
Janne müsste dringend zur Toilette. Zu viel Wasser. Sie reißt sich zusammen und hört zu.
»Paul wollte unbedingt Tango tanzen lernen, für seinen fünfunddreißigsten Hochzeitstag. Eine große Feier war geplant, und er hatte vor, seine Frau damit zu überraschen. Als Entschädigung, weil er ihr in all den Jahren, besonders auf der Hochzeit, so oft auf die Füße getreten war. Er kam extra nach Bremen, weil er befürchtete, in einer Cuxhavener Tanzschule gesehen zu werden.«
Janne erinnert sich an das Fest und daran, dass ihre Eltern Tango tanzten, was jeden überraschte. Es war ein ausgelassener Abend mit zweihundert Gästen. Viktoria hatte Räume im Cuxhavener Schloss gemietet.
»Anfangs war es schlimm mit Paul. Er war sehr ungeschickt, das Tanzen war ihm ein Gräuel. Aber das sollte sich bald ändern. Er war ausgesprochen ehrgeizig und machte überraschende Fortschritte. Wir kamen uns näher, natürlich nur auf der Tanzfläche.« Sie räuspert sich erneut.
»Natürlich«, sagt Janne und hat Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.
»Irgendwann kam er jeden Abend. Oft brachte er Geschenke mit. Kleinigkeiten. Bücher, Blumen, einmal
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