Blaufeuer
er noch einmal dorthin gelangt, Seite an Seite mit seiner Tochter.
Wie traurig schön die Geige weint.
Er will die Augen aufreißen und ihr applaudieren, wie er niezuvor applaudiert hat. »Bravo, bravo«, will er rufen, pfeifen und trampeln und nachher das Kind durch die Luft wirbeln, ihr sagen, dass es falsch war, die Verantwortung für seine unaufgeräumten Hinterlassenschaften in ihre begnadeten Hände zu legen und dass sie auf der Stelle aufhören soll, die Geister seiner Vergangenheit zu beschwören - bevor es zu spät ist.
Der Wahnsinn, geboren aus der Marter des Eingeschlossenseins, streckt seine Fühler nach ihm aus, doch er kämpft gegen ihn an. Er ruft sich seine Jahre als Sportler in Erinnerung, das Training, als er auch nicht sofort drauflosboxen konnte, sondern erst seine Muskeln stählen und die Sinne schärfen musste. So wird er vorgehen, Schritt für Schritt. Er befiehlt seinen Lidern, sich zu heben. Nichts geschieht, das hat er erwartet. Es entmutigt ihn nicht. Er konzentriert sich, versucht es ein zweites Mal, wieder und wieder. Hunderte Male. Er hat ja sonst nichts zu tun.
Unterbrochen werden die Anstrengungen durch den Besuch von Meinhard. Er erkennt ihn gleich beim Eintreten an seinem müden Gang. Beinahe schlurfend. Der arme Junge, seit jeher arbeitet er viel zu viel. Paul Flecker ist sich bewusst, dass er als Vater den ohnehin ausgeprägten Ehrgeiz seines Ältesten in übertriebenem Maße angespornt hat. Sogar Meinhards Stimme klingt müde. Er liest ihm Dostojewski vor. Ein begnadeter Vorleser ist er nicht. Aus seinem Mund klingen die Worte einschläfernd und wehleidiger, als Paul Flecker sie in Erinnerung hat. Mitten im Satz bricht Meinhard ab.
»Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander verbracht«, sagt er stockend.
Das kann ja noch werden. Paul Flecker wäre froh darüber. Denn die Zeit mit den eigenen Kindern verrinnt immer viel zu schnell. Im Nachhinein waren die Jahre mit Erik kaum mehr als ein Augenzwinkern. Ein guter Freund, der kurz die Hand zum Gruß gehoben hat und lächelnd weitergegangen ist. Ein furchtbarerSchmerz flutet durch seinen Körper, er glüht vor Liebe zu seinem toten Sohn.
»Mit Erik warst du ständig zusammen. Er hatte großes Glück. Ich weiß, wie stolz du auf ihn warst«, fährt Meinhard fort. Sein Atem geht stoßweise, und Paul Flecker glaubt einen Anflug von Neid herauszuhören. Dafür hat er kein Verständnis. Als ob er nicht auf alle drei gleich stolz wäre.
Meinhard liest weiter. Schuld und Sühne. Drei Mal hat Paul Flecker Dostojewskis Werk durchgearbeitet, stets hat es ihn inspiriert, jeweils auf eine andere Weise. Es gibt durchaus Parallelen zwischen ihm und dem Protagonisten Raskolnikow: Jung, talentiert, von Armut gezeichnet und gesellschaftlich ein Blindgänger, hat auch der Romanheld nie davor zurückgeschreckt, sich Normen und Werte so zurechtzubiegen, dass verbrecherische Handlungen vor seinem Gewissen als Beweise der Rechtschaffenheit bestehen konnten. Allerdings hat Paul Flecker im Gegensatz zu Raskolnikow nie jemanden umgebracht - zum Glück. Einmal hätte nicht viel gefehlt. Birger Harms, dieser langhaarige Gauner. Ließ sich von ihm, Paul Flecker, seine Spielschulden bezahlen, die ihn als potenziellen Käufer der Werft aus dem Rennen geworfen hatten, und versprach zum Dank lebenslangeTreue.Um dann dreist zu kündigen. Nach nur fünf Jahren im Dienst seines Retters. Eine brenzlige Situation. Ohne den Sachverstand dieses Mannes wäre er aufgeschmissen gewesen. Und mit Geld war dem Kerl ja nicht beizukommen, das rann wie Sand durch seine Finger. Außerdem war Paul Flecker zum fraglichen Zeitpunkt nicht gerade solvent. Was hätte er also tun sollen? »Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, schlag ich dich tot. Nicht heute, sondern wenn du am wenigsten damit rechnest. Das schwöre ich. Du entkommst mir nicht, Birger Harms.« So lauteten seine Worte, die ihm bitter ernst waren. Nicht originell, aber wirkungsvoll. Freunde wurden sie erst viel später.
»Es hätte nie so weit kommen dürfen«, sagt Meinhard zum Abschied. Er wirkt trotzig. Als hätte er ein Anrecht auf eine intakte Familie: einen lebendigen Bruder, einen gesunden Vater. Paul Flecker würde gern damit dienen - obwohl ihm selbst vermutlich kein Heil auf Erden mehr zusteht.
Seine Gedanken wandern zurück zu dem Buch. Ähnlich wie in Schuld und Sühne hat sich auch Paul Fleckers Gewissen auf Dauer nicht mit Beschönigungen abspeisen lassen, weshalb er wie Raskolnikow Erlösung
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