Blaufeuer
Janne mit den Männern zusammen und hat keinen Schimmer, wie es ihr gelingen soll, ihre Solidarität zu gewinnen. Sie riechen anders, sie reden anders und sie ticken anders. Eine verschworene Gemeinschaft mit eigenen Ritualen. Diese sind ihr zwar bekannt, lassen sie jedoch unberührt, was ihre Außenseiterrolle ebenso zementiert wie der Umstand, dass sie eine Frau ist. Die einzige Frau. Vermutlich sind die Jagdgenossen frustriert, weil sie das Gefühl haben, aus Rücksicht auf sieihre zotigen Bemerkungen reduzieren zu müssen. Außerdem gilt es in Deutschland nicht gerade als weiblich, Bambis abzuknallen.
Janne hat theoretisch kein Problem mit dem Jagen. Schließlich ist sie keine Vegetarierin, und das Wild hat ein besseres Leben geführt als die Kreaturen in der Massentierhaltung, bevor sie tiefgefroren im Supermarkt landen. So weit die Theorie. In der Praxis hat sich bedauerlicherweise gezeigt, dass die Tiere, die sie bislang auf dem Gewissen hat - fünf Rehe, ein Wildschwein, zwei Hirsche und je ungefähr zehn Füchse und Hasen -, sie im Schlaf verfolgen, weshalb sie in den vergangenen Jahren überhaupt nicht mehr gejagt hat.
Mit einem Ruck kommt der Anhänger zum Stehen, und Janne prallt gegen den Vordermann, der sie sogleich in die Arme schließt.
»Hoppla, so schwach auf den Beinen, junge Frau«, sagt er, ohne sie loszulassen. »Lehnen Sie sich ruhig bei mir an.«
Die Umstehenden lachen.
Janne stimmt ein. Sie hofft, es klingt jovial.
Wie sich herausstellt, ist das neue Revier so groß, dass die Männer beschließen, einzeln oder in Zweiergruppen auszuschwärmen. Obgleich es nicht an Angeboten mangelt, entscheidet sich Janne für einen Alleingang. Sie ist fest entschlossen, mit Beute zurückzukehren.
Es dauert nicht lange, bis sie eine frische Fährte aufgespürt hat. Im Neuschnee ist das keine Kunst. Eigentlich sind die Bedingungen für die Jagd ideal, abgesehen von der Kälte, die sie nun, da sie für sich ist, weitaus weniger stört. Zügig, aber ohne Hast durchstreift sie das ihr vom Jagdaufseher zugewiesene Waldgebiet. Die Sicht ist nicht schlecht. Zwar bedecken tief hängende Wolken den Himmel, doch der Schnee reflektiert das wenige Licht, sodass der Wald mit seinen mittlerweile nahezu kahlenÄsten und Zweigen von innen heraus zu leuchten scheint. Büchsenlicht. Ein Gefühl von Frieden überkommt sie.
Vielleicht zögert sie deswegen zu lange, als sie die Hirsche auf einer Lichtung erblickt. Janne hat sich so geschmeidig bewegt, dass die Tiere sie bislang nicht bemerkt haben. Prächtige Exemplare, gesund und ausgewachsen, ein Bock und eine Hirschkuh. Janne legt an, ohne zu entsichern, und betrachtet das cognacfar-bene Fell durch das Fadenkreuz. Die Entfernung beträgt rund fünfzig Meter. Sie hat die Herzgegend der Kuh optimal im Visier, ein Schuss und die Beute wäre erlegt, was ihr zumindest vorübergehend die Hochachtung der Jagdgesellschaft sichern würde.
Der Knall zerreißt die Luft. Vögel fliegen kreischend auf, Hasen fliehen in Todesangst über die Lichtung, auch die Hirsche ergreifen die Flucht. Beide. Die Kugel schlägt dicht neben Janne im Stamm einer Birke ein. Rinde und Holzsplitter fliegen durch die Luft. Diese versoffenen Idioten. Das ist ihr Territorium. Können die keine Koordinaten lesen?
»Vorsicht«, brüllt sie.
Es knallt erneut, und eine zweite Kugel schlägt in einen Baumstamm ein. Janne schmeißt sich in den Schnee.
»Feuer einstellen.« Rund achthundert Jagdunfälle gibt es pro Jahr in Deutschland, teilweise mit furchtbaren Folgen. Janne stößt einen weiteren Warnschrei aus, der sich im Krachen des dritten, noch lauteren Schusses verliert. Sie spürt den Luftzug des Geschosses, zentimeterdicht neben ihrer Wange. Ein hohes Pfeifen, darauf der Einschlag so nah, dass sie aufhört, über Unfälle nachzudenken.
Jemand schießt auf sie. Mit voller Absicht. Einer der umherwirbelnden Holzsplitter trifft sie hart am Kopf.
»Von wegen Gespenster, Birger Harms«, murmelt sie und robbt durch den Schnee zum Stamm einer Eiche, hinter der sie Deckung sucht. Sie entsichert das Gewehr. Ihr Puls rast, sie istkurz davor zu hyperventilieren. Wenn es etwas gibt, das sie sich in diesen Sekunden nicht erlauben kann, ist es Panik. Lautlos ruft sie sich zur Ruhe: Reiß dich zusammen, tu es für Erik. Die Beschwörungsformel verfehlt ihre Wirkung nicht.
Bevor das nächste Mal auf sie gefeuert wird, registriert Janne das leise Klicken des Nachladens und wagt einen Blick. Den Angreifer sieht
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