Blaufeuer
Anscheinend will er etwas hinzufügen. Sie sieht, wie er seinen Wortschatz nach tröstlichen Redewendungen durchkämmt und keine findet, also wiederholt er nur mit Nachdruck, dass es ihm leid tue, worauf sie sich erneut bedankt.
Er lädt sie auf einen Tee unter Deck ein und kündigt eine ungemütliche Überfahrt an. Die Insel liegt mehr als sechzig Kilometer nordwestlich der Elbmündung, schon bei ruhiger See ist die Funny Girl mehr als zwei Stunden unterwegs. Und es herrscht strammer Wellengang. Janne stört das nicht. Schlesische Gene oder nicht - sie neigt nicht dazu, seekrank zu werden. Sie schaufelt drei Löffel Zucker in ihren muffig schmeckenden Tee und lässt sich von Reimer ein Foto seiner drei Töchter zeigen, die alle putzige Doppelnamen haben. Putzig ist auch die Innenausstattung des Restaurants, die entweder aus den späten siebziger oder den frühen achtziger Jahren stammt. Es gibt silberne Tapeten, und pink glänzende Lamellenrollos fungieren als Raumteiler. Sie sind eingestaubt, verbeult und im Laufe etlicher stürmischer Passagen teilweise aus ihren Verankerungen gerissen worden. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie wieder zu befestigen - oder zu entfernen, was die weitaus bessere Lösung wäre. Vielleicht heißt das Schiff deshalb Funny Girl. Weil es sich nicht hübsch macht für die Leute.
»Reimer, wenn du dich für Bootsunglücke vor der Helgolän-der Küste interessieren würdest, wen würdest du fragen?«
Er zieht ein Gesicht, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt. »Was hast du denn mit Schiffsunglücken am Hut? Ich dachte, du willst ausspannen.«
Janne rührt in ihrer Tasse. »Havarien können ungemein entspannend sein. Natürlich nur, solange man nicht an Bord ist«, erwidert sie. »Kennst du jemanden, der sich damit befasst?«
»Frag doch im Museum. Oder gleich Ewald Hansen, diesen Heimatkundler. Der weiß eigentlich alles.« Reimer betrachtet sie mit wachsender Skepsis, sein Blick verharrt auf der Narbe über ihrem Auge. »Alles in Ordnung, Janne? Du wirkst ... irgendwie verändert.«
»Du auch, Reimer, zwanzig Jahre sind eine lange Zeit.«
Mehrere kräftige Wogen treffen seitlich gegen den Schiffskörper, der daraufhin leichte Schlagseite bekommt, sich aber schnell wieder aufrichtet. Eine ältere Dame, die einige Tische weiter vor einem halb leer gegessenen Teller mit Bockwurst und Kartoffelsalat sitzt, kreischt auf. Ihr Gesicht verfärbt sich ins Grünliche.
»Dwarssee«, erklärt Reimer, »gleich kotzen wieder alle.« Er besinnt sich auf seine Pflichten als Mannschaftsmitglied. »Ich muss dann wieder.«
Janne bleibt sitzen und rührt unentwegt in ihrer Tasse, obwohl fast kein Tee mehr darin ist. Sie hat ein Kratzen im Hals. Trotz der Jahreszeit und des Wetters sind mindestens hundert Passagiere an Bord. Helgoland gehört nicht zum Zollgebiet der Europäischen Union, außerdem gibt es dort keine Mehrwertsteuer, ein Einkaufsparadies. Um auf der Insel ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen, nehmen viele die Strapazen der rauen Überfahrt in Kauf. Als die Frau mit der Bockwurst ihr inzwischen sehr grünes Gesicht in einer Spucktüte vergräbt und würgende Geräusche von sich gibt, kehrt Janne zurück an Deck, wo sie Wind, Kälte und Wellen standhält, bis sie die Molen der Außenreede passieren und im Südhafen anlegen.
Helgoland. Oder auf Hochdeutsch: Heiliges Land. Eine schroffe Heilige, ein Koloss aus rotem Buntsandstein inmitten der Nordsee. Janne ist schon oft auf der Insel gewesen, zum Einkaufen, Baden oder um ungestört Zeit mit Nils zu verbringen. Sie hatten vorgehabt, auf Helgoland zu heiraten, in einer der bunten, skandinavischanmutenden Hummerbuden, die früher von Fischern als Werkstätten und Lagerplätze genutzt wurden und heute in restauriertem Zustand als Sehenswürdigkeit gelten.
Direkt nach der Ankunft betritt sie die Kneipe Atlantis in einer dieser Holzhütten. Drinnen erwartet sie in schummrigem Licht das vertraute Sammelsurium maritimen Tandwerks - von der Aalreuse bis zum Gebiss eines Tigerhais. Es duftet nach Fischsuppe und ausgelassenem Speck. Grit Martens, die Wirtin, steht am Zapfhahn. Als sie Janne erblickt, stürzt sie hinter dem Tresen hervor und fällt ihr um den Hals. Eine kleine drahtige Frau Mitte fünfzig, die sie gar nicht wieder loslassen will. Bisher hat Janne sie für eine entfernte Verwandte gehalten, denn sie ist eine Cousine von Oskar Sayer.
»Wie geht's dir, Mädchen?« Grit hebt mit dem Daumen sanft, aber entschlossen Jannes
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