Blausäure
Treue, in guten und in schlechten Tagen. Ihre Hochzeit war ein Traum aus weißem Satin und Brüsseler Spitzen, mit sechs Brautjungfern und zwei kleinen akkuraten Pagen und allen weiteren notwendigen Accessoires. Ihre Hochzeitsreise verbrachten sie in Italien, und danach bezogen sie ein reizendes Häuschen in Westminster. Bald darauf starb Sandras Patentante, die ihr ein entzückendes kleines Herrenhaus im schönsten Queen-Anne-Stil auf dem Land hinterließ. Alles lief wie geschmiert für das junge Paar. Mit frischem Schwung stürzte sich Stephen in sein parlamentarisches Leben, und Sandra unterstützte und ermutigte ihn in jeder Weise. Sie identifizierte sich mit Herz und Seele mit ihm und seinen ehrgeizigen Zielen. Manchmal überkam Stephen ein ungläubiges Staunen, wenn er daran dachte, wie ihn das Glück begünstigt hatte. Seine Verbindung mit der mächtigen Kidderminster-Clique ermöglichte ihm schnellen Aufstieg, und er würde die Stellung, zu der ihm der Zufall verhalf, durch seine kompetente und brillante Art zu sichern wissen. Er glaubte aufrichtig an seine eigenen Fähigkeiten und war willens, schonungslos für das Wohl seines Landes zu schuften.
Oft, wenn er beim Essen zu seiner Frau hinüberschaute, empfand er freudig, was für eine perfekte Kameradin sie ihm war – genau wie er es sich immer vorgestellt hatte. Er mochte die hübschen, reinen Linien von Kopf und Nacken, die offen blickenden braunen Augen unter den schnurgeraden Brauen, die hohe weiße Stirn und die leicht arrogant wirkende Nasenkrümmung. Sie ähnelte einem Rennpferd, dachte er – wirkte ebenso gestriegelt und gepflegt, so durch und durch rassig und stolz. Sie war die ideale Gefährtin; wenn der eine einen Gedanken anfing, führte der andere ihn zu Ende. Ja, dachte er, der arme, kleine Stephen Farraday hatte es richtig gemacht. Sein Leben verlief genau so, wie er es sich vorgenommen hatte. Er war erst Anfang dreißig – und hielt den Erfolg schon fest in der Hand.
In jener Stimmung, triumphierend, zufrieden, fuhr er mit seiner Frau für zwei Wochen nach Sankt Moritz, und auf der anderen Seite der Hotelhalle sah er Rosemary Barton.
Er würde niemals verstehen, was in diesem Moment mit ihm geschah. Man konnte eine Art poetischer Rache darin sehen, dass sich nun seine bereits zuvor benutzten Worte erfüllten: Auf den ersten Blick verliebte er sich in eine Frau auf der gegenüberliegenden Seite des Saales. Mit aller Macht ergriff ihn das Gefühl, überwältigte ihn, tief und wahnsinnig – eine verzweifelte, ungestüme Primanerliebe, die er Jahre zuvor hätte empfinden – und überwinden sollen.
Er hatte immer angenommen, dass er kein Typ für große Leidenschaften sei. Ein paar flüchtige Affären, ein harmloser Flirt – das war alles, was er unter Liebe verstand. Er machte sich nichts aus den Freuden der Sinne, und er redete sich ein, dass er zu anspruchsvoll für derlei Dinge war.
Hätte man ihn gefragt, ob er seine Frau liebe, hätte er «Aber sicher doch» geantwortet, wohl wissend, dass er nicht im Traum daran gedacht hätte, sie zu heiraten, wenn sie ein mittelloses Mädchen vom Lande gewesen wäre, etwa die Tochter eines verarmten Gutsbesitzers… Er schätzte sie, bewunderte sie, war ihr herzlich zugetan – und war ihr nicht zuletzt dankbar für das, was ihre gesellschaftliche Position ihm eingebracht hatte.
Dass er sich so verlieben konnte, mit der Hingabe und Qual eines pubertierenden Knaben, war eine echte Offenbarung für ihn. Er konnte an nichts anderes denken als an Rosemary. Ihr liebliches, lachendes Gesicht, das volle Kastanienhaar, ihr geschmeidiger, sinnlicher Körper. Er konnte nicht mehr essen – nicht schlafen. Sie liefen zusammen Ski. Er tanzte mit ihr. Und als er sie in seinen Armen hielt, wusste er, dass er sie haben wollte, mehr als alles andere auf der Welt. Dies also – dieses Elend – dieses leidvolle, schmerzliche Begehren – dies war die Liebe!
Selbst in diesem Zustand segnete er sein Schicksal, das ihn mit den Gaben der Gelassenheit und des Gleichmuts ausgestattet hatte. Niemand sollte raten, niemand durfte wissen, was er empfand – außer Rosemary.
Die Bartons reisten eine Woche vor den Farradays ab. Stephen teilte Sandra mit, dass er Sankt Moritz nicht besonders aufregend fand. Sollten sie ihren Urlaub nicht abkürzen und zurück nach London fahren? Sie stimmte freundlich zu. Zwei Wochen später war er Rosemarys Geliebter geworden.
Eine merkwürdige, ekstatische, hektische Zeit –
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