Blausäure
hatte er einige nützliche Freundschaften geschlossen. Er wollte in die Politik. Er hatte gelernt, seine natürliche Schüchternheit zu überspielen, und sich gewandte Umgangsformen zugelegt. Er wirkte bescheiden, freundlich – und brillant, und manch einer, dem er begegnete, dachte hinterher: «Aus dem wird mal was.» Obwohl im Herzen ein Liberaler, erkannte Stephen, dass die Liberale Partei zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Chancen hatte. Er schloss sich der Labour Party an. Dort wurde sein Name bald als der eines jungen Mannes gehandelt, der stark im Kommen war. Aber die Labour Party stellte Stephen nicht zufrieden. Er fand sie neuen Ideen gegenüber weniger aufgeschlossen, starrer und stärker der Tradition verhaftet als ihre große und mächtige Konkurrenz. Und es traf sich, dass die Konservativen gerade Ausschau nach viel versprechenden jungen Talenten hielten.
Sie sprachen Stephen Farraday an – er war genau der Typ, den sie suchten. Er kandidierte in einem Wahlkreis, der bis dahin ziemlich fest in Labour-Hand gewesen war, und siegte mit knapper Mehrheit. Mit einem Gefühl des Triumphs nahm er seinen Sitz im Unterhaus sein. Er war dabei, Karriere zu machen, und er hatte die richtige Laufbahn gewählt. Die Politik war genau das Feld, wo er seine Kompetenz, all seinen Ehrgeiz verwirklichen konnte. Er fühlte, dass er die Fähigkeit besaß, zu regieren, gut zu regieren. Er konnte mit Leuten umgehen, wusste genau, wann er ihnen schmeicheln musste und wann es besser war, Härte zu zeigen. Eines Tages, schwor er sich, würde er dem Kabinett angehören.
Trotzdem: Sobald die Erregung darüber, dass er nun im Unterhaus saß, sich gelegt hatte, machte sich gelinde Enttäuschung breit. Während des harten Wahlkampfs waren alle Scheinwerfer auf ihn gerichtet gewesen, jetzt aber war er nichts weiter als ein unbedeutendes Rädchen im großen Parteiapparat; er musste sich der Parteiraison unterordnen und kam aus dem Alltagstrott nicht heraus. Aus der Menge herauszuragen war schwer. Jugend war hier etwas, das man eher misstrauisch beäugte. Und mit Leistung allein kam man nicht weiter. Hier brauchte man Protektion.
Es gab nun einmal bestimmte Interessen, bestimmte Fraktionen, Verbindungen. Bestimmte Familien. Von nun an brauchte er «Vitamin B».
Er dachte an Heirat. Bis zu diesem Zeitpunkt war das kein wichtiges Thema für ihn gewesen. Irgendwo im Hinterkopf sah er ein schemenhaftes Wesen an seiner Seite, sah sich Hand in Hand durchs Leben gehen mit einer hübschen Frau, die für ihn da wäre und seine Ziele zu ihren eigenen machte, die ihm Kinder gebar und seine Gedanken und Sorgen teilte. Eine Frau, die so fühlte wie er, die seinen Erfolg genauso ehrgeizig wünschte und die stolz auf ihn wäre.
Eines Tages ging er zu einem der großen Empfänge im Hause Kidderminster. Die Kidderminsters waren der mächtigste Clan in England – seit Urzeiten in der Politik. Jeder kannte Lord Kidderminster, mit seinem kleinen Spitzbart und seiner hohen, markanten Gestalt. Und Lady Kidderminsters großes Schaukelpferdgesicht war von ihren zahlreichen öffentlichen Auftritten her – auf Rednertribünen und als Vorsitzende etlicher Komitees – ebenfalls wohl bekannt. Sie hatten fünf Töchter, von denen drei gut aussahen, und einen Sohn, der noch in Eton war.
Die Kidderminsters legten Wert darauf, den Parteinachwuchs zu fördern; so war Stephen Farraday zu seiner Einladung gekommen.
Er kannte kaum jemanden von den Gästen und stand – nachdem er schon etwa zwanzig Minuten dort war – allein in der Nähe eines Fensters. Das Grüppchen, das sich am Büfett gedrängt hatte, löste sich gerade auf und verlief sich in andere Räume, und Stephen bemerkte eine große, schwarz gekleidete junge Frau, die etwas verloren dastand.
Stephen Farraday hatte einen guten Blick für Gesichter. Am Morgen hatte er in der U-Bahn amüsiert in einem Klatschblättchen geblättert, das seine Sitznachbarin liegen gelassen hatte. Darin hatte er ein ziemlich verschwommenes Foto von Lady Alexandra Hayle gesehen, der dritten Tochter des Grafen von Kidderminster. Und aus dem dazu gehörenden Artikelchen hatte er erfahren, dass Lady Alexandra «scheu wie ein Reh» war – Tiere liebte – und derzeit auf Wunsch ihrer Mutter einen hauswirtschaftlichen Kurs absolvierte: «Lady Kidderminster legt Wert auf eine gründliche Ausbildung ihrer Töchter auch in häuslichen Belangen…»
Kein Zweifel, dort stand Lady Alexandra Hayle. Mit dem sicheren Instinkt des
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