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Blausäure

Blausäure

Titel: Blausäure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Schüchternen erkannte Stephen, dass auch sie schüchtern war. Als die am wenigsten attraktive unter den fünf Töchtern hatte Alexandra immer an Minderwertigkeitsgefühlen gelitten. Obwohl ihr dieselbe Ausbildung und Erziehung zuteil geworden war wie ihren Schwestern, hatte sie nie deren Gewandtheit erlangt – sehr zum Ärger ihrer Mutter. «Sandra muss sich Mühe geben» – es war absurd, so linkisch und plump zu sein!
    Stephen wusste das natürlich nicht, aber er erkannte, dass die junge Frau sich nicht wohl fühlte, ja, dass sie unglücklich war. Und plötzlich durchzuckte ihn jähe Gewissheit: Dies war seine Chance! «Na los, du Feigling! Jetzt oder nie!»
    Er durchquerte den Raum in Richtung Büfett und nahm sich in ihrer Nähe ein Sandwich. Dann sprach er sie an. Er musste nicht spielen, dass es ihn Überwindung kostete – er war wirklich nervös.
    «Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so einfach anspreche? Ich kenne hier kaum jemanden, und wie ich sehe, Sie auch nicht? B-b-b-bitte, lassen Sie mich nicht stehen! I-i-i-ch b-b-bin nämlich etwas sch-schüchtern, und ich glaube, S-s-sie sind es a-a-auch.»
    Sein Stottern war im allergünstigsten Moment zurückgekommen.
    Die junge Frau errötete und starrte ihn mit offenem Mund an. Aber genau wie er gedacht hatte: Die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. «Ich bin die Tochter des Hauses» – nein, es war zu schwierig für sie. Lieber gab sie zu, dass auch sie tatsächlich schrecklich schüchtern war.
    Stephen haspelte also weiter.
    «Ein furchtbares Gefühl. Ich weiß nicht, ob man es je besiegt. Manchmal fühle ich mich, als wäre mir die Zunge festgewachsen.»
    «Mir geht es genauso.»
    So setzte er die Tour fort. Er sprach schnell, mit leichtem Stottern und jungenhaftem Flehen, in einer Weise, die vor einigen Jahren noch ganz seinem Naturell entsprochen hatte und die er jetzt bewusst benutzte und kultivierte. Er wirkte jung, naiv, entwaffnend.
    Geschickt brachte er das Gespräch aufs Theater und erwähnte ein Stück, das zurzeit ziemlich viel Aufsehen erregte. Sandra hatte es ebenfalls gesehen. Sie diskutierten darüber, und da es einige sozialkritische Aspekte enthielt, waren sie bald in ein angeregtes Gespräch über Sozialpolitik im Allgemeinen und Besonderen verstrickt.
    Stephen verstand es, die Situation nicht zu überziehen. Als er Lady Kidderminster – offensichtlich auf der Suche nach ihrer Tochter – ins Zimmer kommen sah, verabschiedete er sich schnell. Es gehörte nicht zu seinem Plan, jetzt schon vorgestellt zu werden. Leise murmelte er:
    «Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. Ohne Sie hätte ich mich bei dieser grässlichen Veranstaltung schrecklich gelangweilt. Haben Sie vielen Dank!»
    Er verließ das Haus der Kidderminsters mit einem Hochgefühl. Er hatte das Glück beim Schopf gepackt. Jetzt musste er darangehen, es zu sichern.
    In den folgenden Tagen trieb er sich in der Nachbarschaft des Hauses herum. Einmal sah er Sandra mit einer ihrer Schwestern herauskommen. Einmal verließ sie das Haus zwar allein, aber mit schnellem Schritt. Er schüttelte den Kopf. Das war noch nicht der richtige Zeitpunkt, offenbar war sie auf dem Weg zu einer Verabredung und hatte es eilig. Aber etwa eine Woche nach dem Empfang wurde seine Geduld schließlich belohnt. Eines Morgens kam sie mit einem kleinen, schwarzen Scotchterrier aus dem Haus und spazierte langsam in Richtung Hydepark.
    Fünf Minuten später stieß sie fast mit einem jungen Mann zusammen, der sich ihr im Eiltempo von der anderen Seite her näherte. Kurz vor Sandra machte er plötzlich halt.
    «He, was für ein Glück!», rief er freudig aus. «Ich hab mich schon gefragt, ob ich Sie je Wiedersehen würde.»
    Sein Ton war so voller Begeisterung, dass sie – ganz zart – errötete.
    Er bückte sich, um den Hund zu streicheln.
    «Was für ein niedliches Kerlchen! Wie heißt er?»
    «MacTavish.»
    «Na, schottischer geht’s nicht.»
    Sie wechselten ein paar Sätze über Hunde. Dann sagte Stephen, eine Spur verlegen:
    «Entschuldigen Sie, ich hab mich neulich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Stephen Farraday. Ich bin so ein Hinterbänkler im Parlament.»
    Er blickte sie fragend an und sah, wie ihr die Röte wieder in die Wangen stieg, als sie ihm antwortete:
    «Ich bin Alexandra Hayle.»
    Es gelang ihm, sehr glaubwürdig zu reagieren, als spiele er wieder in einer Aufführung auf der Studentenbühne mit. Überraschung, Erkenntnis, Entsetzen, peinliche Verlegenheit.
    «Was – Sie

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